Quarantaene
ihrem Arbeitszimmer stand einen Spalt weit offen, und Chris machte sich durch ein Räuspern bemerkbar. Marguerite saß an einem vollgepackten Schreibtisch. Sie kritzelte Notizen auf ein Handgerät, aber ihre Aufmerksamkeit war ganz auf den Bildschirm an der Wand gegenüber gerichtet. »Hab gar nicht gehört, dass Sie reingekommen sind«, sagte sie, ohne aufzusehen.
»Tut mir leid, wenn ich Sie beim Arbeiten störe.«
»Ich arbeite nicht. Jedenfalls nicht offiziell. Ich versuche nur herauszufinden, was da vorgeht.« Sie drehte sich zu ihm um. »Gucken Sie mal.«
Auf dem Bildschirm war das sogenannte Subjekt dabei, im Lichte einiger Wolframglühbirnen eine nach oben ansteigende Rampe zu erklimmen. Der virtuelle Blickpunkt schwebte hinter ihm her, richtete sich stets auf seinen Oberkörper aus. Von hinten, dachte Chris, sah das Subjekt aus wie ein Catcher in einer roten Lederburka. »Wo will er hin?«
»Ich habe keine Ahnung.«
»Ich dachte, er hätte ziemlich regelmäßige Gewohnheiten.«
»Wir sollen keine geschlechtsbezeichnenden Pronomen verwenden, aber unter uns gesagt, ja, er ist ein Wesen mit sehr regelmäßigen Gewohnheiten. Nach seiner Uhr sollte er jetzt eigentlich schlafen – falls ›schlafen‹ das ist, was sie tun, wenn sie im Dunkeln liegen und sich nicht bewegen.«
Dies war die nüchtern distanzierte, rundum abgesicherte Ausdrucksweise, die Chris inzwischen vom Personal in Blind Lake gewöhnt war.
»Wir beobachten das Subjekt nun seit mehr als einem Jahr«, sagte Marguerite, »und es ist nie mehr als ein paar Minuten von seinem Stundenplan abgewichen. Bis vor Kurzem. Vor einigen Tagen hat es zwei Stunden in einer Essensklausur gesessen, die normalerweise eine halbe Stunde dauert. Seine Ernährung hat sich verändert. Seine soziale Interaktion nimmt ab. Und heute Abend scheint es unter Schlaflosigkeit zu leiden. Setzen Sie sich und sehen Sie selbst, falls es Sie interessiert, Mr. Carmody.«
»Chris«, sagte er. Er räumte einen Stapel des Astrobiological Review von einem Stuhl.
Marguerite ging zur Tür und rief: »Tess!«
Von unten: »Ja?«
»Zeit für dein Bad!«
Schritte kamen die Treppe hochgetapert. »Ich glaube nicht, dass ich ein Bad brauche.«
»O doch. Kannst du es selbst einlassen? Ich habe immer noch zu tun.«
»Glaube schon.«
»Ruf mich, wenn es so weit ist.«
Wenig später war das Rauschen von einlaufendem Wasser zu hören.
Chris beobachtete, wie das Subjekt einen weiteren gewundenen Gang emporstieg. Es war völlig allein, was an sich schon ungewöhnlich war. Die Eingeborenen agierten meistens in größeren Gruppen, teilten allerdings nie die Schlafgemächer miteinander.
»Diese Burschen sind außerdem hauptsächlich tagaktiv«, sagte Marguerite. »Also auch da eine Abweichung. Was die Frage betrifft, wo es hinwill – he, sehen Sie.«
Das Subjekt gelangte an einen offenen Torbogen und trat hinaus in die sternenklare fremdartige Nacht.
»Hier ist es noch nie gewesen.«
»Wo hier?«
»Eine Balkonplattform ganz oben auf seinem Wohnturm. Mein Gott, dieser Blick!«
Das Subjekt ging zu dem niedrigen Geländer am Rande des Balkons. Der virtuelle Blickpunkt schwebte ihm nach, sodass Chris die Hummerstadt sehen konnte, die sich hinter dem gemaserten Rumpf des Subjekts ausbreitete. Die langgestreckten Pyramidentürme waren an den Eingängen und den Balkonen von Lampen auf den öffentlichen Gehwegen beleuchtet. Ameisenhügel und Schneckengehäuse, dachte Chris, mit Goldgirlanden. Als Chris klein war, pflegten seine Eltern ein- oder zweimal im Jahr den Mulholland Drive bei Nacht entlangzufahren, um unter sich die Lichter von Los Angeles zu sehen. Das hatte damals so ähnlich ausgesehen wie jetzt. Fast ebenso riesig. Fast ebenso einsam.
Der kleine, schnelle Mond des Planeten war voll, man konnte einiges von den Trockengebieten jenseits der Stadt erkennen, auch die flachen Berge weit im Westen sowie ein hohes, von starken Winden vorangetriebenes Wolkenriff. Elektrostatisch aufgeladener Staub rollte in Spiralen über die bewässerten Felder, löste sich, riesigen Geistern gleich, ebenso schnell auf, wie er sich gebildet hatte.
Er sah, dass Marguerite beim Zugucken ein wenig erschauderte.
Das Subjekt näherte sich dem zerfressenen Balkongeländer. Wie zögernd stand es da. Chris sagte: »Will er sich vielleicht umbringen?«
»Ich hoffe nicht.« Sie war angespannt. »Wir haben noch kein selbstzerstörerisches Verhalten beobachtet, aber wir sind schließlich neu hier. Gott, ich
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