Quarantaene
Springquell. Diesmal konnte Marguerite nicht verbergen, wie ihr vor Schreck der Atem stockte.
Chris sagte: »Ist noch Glas in der Wunde?«
»Ich kann’s nicht erkennen … nein, ich glaube nicht.«
»Wir müssen draufdrücken. Sie wird auch genäht werden müssen.« Neuerlich geschockt, heulte Tess auf. »Das ist nicht schlimm«, versuchte Chris sie zu beruhigen. »Meiner kleinen Schwester ist mal das Gleiche passiert. Sie ist mit einem Glas in der Hand hingefallen und hat sich böse geschnitten – schlimmer noch als du jetzt. Später hat sie damit angegeben. Meinte, sie sei die Einzige gewesen, die keine Angst gehabt hätte. Der Arzt hat sie wieder zusammengeflickt.«
»Wie alt war sie?«
»Dreizehn.«
»Ich bin elf«, maß Tess ihren Schneid an diesem neuen Standard.
»Im Badezimmerschrank ist Verbandszeug«, sagte Marguerite. »Können Sie es holen, Chris?«
Er brachte Gaze und eine braune elastische Binde. Marguerites Hände zitterten, daher drückte Chris die Gaze in Tessas Hand und wies sie an, eine feste Faust drumherum zu machen. Die Gaze wurde sofort leuchtend rot. »Wir müssen sie in die Ambulanz fahren«, sagte er. »Geben Sie mir doch Ihren Autoschlüssel; dann starte ich den Wagen schon mal, während Sie ihr was anziehen.«
»Ist gut. Die Schlüssel sind in meiner Handtasche, in der Küche. Tess, kannst du gehen? Pass auf die Scherben auf dem Fußboden auf.«
Auf dem ganzen Weg die Treppe hinunter hinterließ sie Blutstropfen auf dem Teppich.
Im Medical Center von Blind Lake, an der Ostseite der Hubble Plaza gelegen, war die Ambulanz die ganze Nacht hindurch geöffnet. Die am Empfang diensttuende Schwester warf nur einen kurzen Blick auf Tess, dann brachte sie das Mädchen und Marguerite schleunigst in ein Behandlungszimmer. Chris saß im Empfang und blätterte in sechs Monate alten Reisezeitschriften, während sanfte Popmusik aus den Deckenlautsprechern rieselte.
Nach Augenschein zu urteilen, war Tessas Verletzung eher geringfügig und die Ambulanz für eine angemessene Versorgung sicherlich ausgerüstet. Es war besser, nicht daran zu denken, was hätte passieren können, wenn die Verletzung schwerwiegender gewesen wäre. Die Ambulanz war recht gut ausgestattet, aber sie war kein Krankenhaus.
Tess hatte sich gegen das Fenster »gelehnt«. Aber so ein Fenster geht nicht entzwei, wenn man sich dagegenlehnt. Tess hatte gelogen und Marguerite hatte die Lüge durchschaut. Aber nicht darüber sprechen wollen in Anwesenheit eines Fremden. Es gab da offenbar irgendein schon länger bekanntes Problem mit ihrer Tochter, vermutete Chris. Wut, Depression, Scheidungstrauma. Aber das Mädchen hatte keinen wütenden oder depressiven Eindruck gemacht, als sie sich in der Küche unterhalten hatten. Und er hörte noch das entspannte Lachen aus dem Schlafzimmer, wenige Momente vor dem Unfall.
Es geht mich nichts an, sagte er sich. Zwar erinnerte ihn Tess ein bisschen an seine Schwester Portia – sie war von der gleichen arglosen Liebenswürdigkeit –, aber deswegen betraf ihn die Sache noch lange nicht. Er hatte es aufgegeben, die Geplagten trösten und die, die nicht bei Trost waren, plagen zu wollen. Er konnte das einfach nicht. Alle seine Kreuzzüge hatten böse geendet.
Marguerite kam aus dem Behandlungszimmer, mitgenommen und vom Blut ihrer Tochter beschmiert, aber offenbar beruhigt. »Sie haben die Wunde gesäubert und genäht«, teilte sie Chris mit. »Sie war dann doch sehr tapfer, als der Arzt kam. Die Geschichte von Ihrer Schwester hat ihr geholfen, glaube ich.«
»Das freut mich.«
»Danke für Ihre Hilfe. Ich hätte sie auch selbst fahren können, aber das wäre sehr viel komplizierter gewesen. Und Tess hätte noch mehr Angst gehabt.«
»Keine Ursache.«
»Sie hat ein Schmerzmittel bekommen. Der Arzt sagt, wir können nach Hause fahren, sobald es zu wirken beginnt. Sie wird die Hand allerdings für ein paar Tage absolut ruhig halten müssen.«
»Haben Sie ihren Vater schon verständigt?«
Marguerite wirkte sofort mutlos. »Nein, aber das sollte ich wohl. Ich hoffe nur, dass er nicht gleich ausflippt. Ray ist …« Sie brach ab. »Sie wollen nicht mit meinen Problemen behelligt werden.«
Nein, ehrlich gesagt nicht. Sie sagte: »Entschuldigen Sie«, und ging mit ihrem Telefon in eine entfernte Ecke des Wartezimmers.
Trotz bester Absichten konnte Chris nicht umhin, einen Teil des Gesprächs mitzuhören. Die Art, wie sie mit ihrem Mann redete, war aufschlussreich. Zunächst bewusst
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