Quarantaene
Gericht relevant würde. Er hielt ihre kleine Hand fest, überzeugte sich davon, dass nichts auf eine Infektion hindeutete. Keine kleinen Lebewesen, die seiner Tochter den Lebenssaft aussaugten.
»Was gibt’s zu essen?«, fragte Tess.
»Huhn«, sagte Ray und überließ sie ihren Büchern. Tiefgekühltes Huhn im Gefrierschrank. Die Versuchsperson entnahm aus kalter Lagerung das geschlachtete Fleisch eines am Boden lebenden Vogels und ließ es in einer Pfanne mit kalt gepresstem Pflanzenöl anbraten. Knochlauch und Basilikum, Salz und Pfeffer wurden hinzugefügt. Von dem Geruch lief ihm das Wasser im Mund zusammen. Tess, davon angelockt, kam in die Küche, um ihm beim Kochen zuzusehen.
»Machst du dir Sorgen, weil du morgen zu deiner Mutter zurückgehst?«
Zu deiner biologischen Mutter. Zur anderen Hälfte deiner genetischen Trickkiste. Zur schlechteren Hälfte, dachte Ray.
»Nein«, sagte Tess. Dann, fast aufsässig: »Warum fragst du andauernd solche Sachen?«
»Tu ich das?«
»Ja. Manchmal.«
»Nun, manchmal ist nicht immer, oder?«
»Nein, aber …«
»Ich möchte nur, dass es dir gut geht, Tess.«
»Ich weiß.« Geschlagen wandte sie sich ab.
»Du bist glücklich hier, nicht wahr?«
»Es ist okay hier.«
»Denn bei deiner Mutter kann man nie wissen, stimmt’s? Könnte sein, dass du die ganze Zeit hier wohnen musst, falls ihr irgendetwas passiert.«
Tess kniff die Augen zusammen. »Was sollte ihr passieren?«
»Man kann nie wissen«, sagte Ray.
Vierzehn
Bevor es die Stadt verließ, war Subjekts Leben ein sich immerfort wiederholender Zyklus von Arbeit, Schlaf und Nahrungsaufnahme gewesen. Es hatte Marguerite auf bestürzende Weise an die hinduistische Vorstellung der Kalpas erinnert, des heiligen Kreislaufs, der ewigen Wiederkehr.
Aber das hatte sich jetzt verändert.
Denn aus dem Kreis war etwas anderes geworden: nämlich eine Erzählung, eine Geschichte, dachte Marguerite, mit einem Anfang und einem Ende. Darum war es so wichtig, das Auge weiterhin auf das Subjekt zu richten, ungeachtet dessen, was die mehr zum Zynismus neigenden Mitarbeiter in der Interpretation meinten. »Das Subjekt ist nicht mehr repräsentativ«, sagten sie. Aber gerade das machte den Vorgang so interessant. Subjekt war ein Individuum geworden, etwas, das mehr war als die Summe seiner Funktionen in der Gesellschaft der Eingeborenen. Dies war offenkundig eine Art Krise im Leben des Subjekts, und Marguerite fand die Vorstellung, deren Auflösung nicht mitverfolgen zu können, ganz und gar unerträglich. Selbst wenn diese Auflösung in seinem Tod bestehen sollte. Und das war nicht ausgeschlossen.
Schon bald war ihr die Idee gekommen, die Odyssee des Subjekts aufzuschreiben, nicht analytisch, sondern als das, was daraus geworden war: eine Erzählung, eine Geschichte. Natürlich nicht für die Öffentlichkeit gedacht. Schließlich würde sie alle Regeln der Objektivität verletzen, sich allen möglichen bewussten und unbewussten Anthropozentrismen hingeben. Außerdem war sie keine Autorin, jedenfalls keine Autorin dieser Art. Sie wollte es ausschließlich zu ihrer eigenen Befriedigung machen … und weil sie glaubte, dass das Subjekt es verdiente. Schließlich war es ein reales Leben, in das sie da eingedrungen waren. In der Privatheit des Schreibens könnte sie ihm die gestohlene Würde zurückerstatten.
Sie nahm das Projekt in einem blauen Schulheft mit Spiralbindung in Angriff. Tess lag im Bett (sie war vor zwei Tagen, nach einem enttäuschenden Weihnachtsfest, von ihrem Vater zurückgekommen) und Chris stellte unten die Küche auf den Kopf oder plünderte ihre Bibliothek. Es war ein kostbarer Moment, den sie schweigend würdigte. Jetzt konnte sie die schwarze Kunst der Empathie ausüben. Jetzt konnte sie offen eingestehen, dass ihr das Schicksal dieses so unerforschlichen und gleichzeitig so intim vertrauten Wesens am Herzen lag.
Subjekts letzte Tage in der Stadt [schrieb Marguerite] waren unruhig und episodenhaft.
Es besetzte zur üblichen Zeit seine Arbeitsstation, aber seine Essklausuren wurden kürzer und flüchtiger. Es stieg die Stufen zum Nahrungsschacht sehr langsam hinunter, und im trüben Licht der Abendklausuren nahm es weniger als die übliche Menge von Feldfrüchten zu sich. Mehr Zeit verwendete es darauf, schimmelartige Gewächse von den feuchten Schachtwänden zu kratzen und sich die Rückstände von den Nahrungsklauen zu saugen.
Normalerweise war dies eine Zeit intensiver sozialer
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