Quarantaene
ich glaube nicht, dass wir es hier mit der Wiederkunft Christi zu tun haben. Wenngleich einige Menschen es vielleicht dafür halten. Das deutet dann allerdings auf etwas Seltsames hin, meinen Sie nicht? Etwas schwer Greifbares.«
»Seltsam und schwer greifbar. Wow, tolle Einsicht.«
Chris steckte die Zeitschriftenseite zurück in seine Jackentasche. Er ließ die anderen einige Minuten weiter diskutieren. Elaine war sichtlich frustriert darüber, nur eine halbe Erklärung vorliegen zu haben. Sebastian wirkte eher fasziniert als ängstlich, und Sue hielt sich in bedrückter Schweigsamkeit an seinem linken Arm fest.
»Dann haben die Kritiker also vielleicht recht«, sagte Elaine. »Irgendwas ist mit den O/BEKs in Crossbank passiert. Also muss man darüber nachdenken, das Auge abzuschalten.«
»Vielleicht«, sagte Chris. Er war dieses Szenario vergangene Nacht mit Marguerite durchgegangen. »Aber wenn die Leute draußen wollten, dass wir abgeschaltet werden, hätten sie uns schon vor Monaten den Saft abdrehen können. Vielleicht haben sie genau das in Crossbank gemacht, und es hat die Sache nur verschlimmert.«
»Vielleicht, vielleicht, vielleicht. Scheiß auf vielleicht. Was wir brauchen, sind mehr Informationen.« Sie richtete einen bedeutungsvollen Blick auf Sue.
Sue beschäftigte sich mit ihrem Sandwich, als habe sie nichts bemerkt.
»Braves Mädchen«, sagte Sebastian zu ihr. »Man soll sich niemals aufdrängen.«
In bemerkenswert würdiger Haltung, wie Chris fand, schluckte Sue Sampel den letzten Schinken-Käse-Bissen hinunter und spülte mit einem Schluck Kaffee nach. Dann räusperte sie sich. »Sie wollen wissen, was Ray durch das Eindringen in die Server der Leitungsebene entdeckt hat. Tut mir leid, aber ich konnte es nicht herausfinden. Rays Paranoia hat in letzter Zeit noch mal zugelegt. Alle Mitarbeiter müssen jetzt zeitprogrammierte Schlüssel tragen. Ohne speziellen Sicherheitsvermerk können wir weder früher kommen noch länger bleiben. Die meisten Büroräume sind videoüberwacht, und zwar nicht nur so nebenbei.«
»Und was wissen Sie jetzt also?«, fragte Elaine.
»Nur das, was ich hin und wieder zufällig mitbekomme. Dimi Schulgin ist kürzlich mit einem Packen Ausdrucke aufgetaucht, wahrscheinlich Hardcopys aller Mails aus Crossbank, die vor der Abriegelung noch in den Caches gelandet sind. Ray ist extrem nervös geworden, seit er die gesehen hat. Was aber den Inhalt betrifft, so ist es mir nicht gelungen, auch nur in die Nähe zu kommen. Und falls Ray jemals die ehrliche Absicht hatte, dieses Zeug öffentlich zu machen, dann hat er es sich offensichtlich anders überlegt.«
Ray ist nicht einfach nur nervös, dachte Chris. Er hat Angst. Der Anstrich von Vernünftigkeit blättert von ihm ab wie Farbe von einem Scheunentor.
»Dann sind wir also im Arsch«, sagte Elaine.
»Nicht unbedingt. Ich könnte vielleicht etwas für Sie ergattern. Aber ich bräuchte Hilfe.«
Sue konnte ziemlich überzeugend das kleine Dummchen geben, doch in Wirklichkeit, dachte Chris, war sie alles andere als dumm. Dummköpfe bekamen keinen Job in Blind Lake, nicht einmal in untergeordneter Funktion. Falls sich die Ausdrucke noch in Rays Büro befänden, so Sue, könnte sie sie, eventuell und mit ein bisschen Glück, finden und in ihren Personalserver einscannen. Sie könnte sich unter einem Vorwand Zutritt zu Rays Büro verschaffen und mit ihrem Hauptschlüssel seinen Schreibtisch öffnen, aber sie müsste dazu mindestens eine halbe Stunde lang garantiert ungestört sein.
»Was ist mit der Überwachung?«
»In diesem Punkt profitieren wir von Rays Paranoia. In den Chefbüros sind keine Kameras vorgeschrieben. Ray hat seine seit letztem Sommer abschalten lassen. Wahrscheinlich wollte er nicht, dass jemand sieht, wie er seine DingDongs isst.«
»DingDongs?«
Sue ging abwinkend über die Frage hinweg. »Die Sicherheitsleute sehen, wie ich ins Büro reingehe und wieder rausgehe, aber wenn ich mich von der Verbindungstür fernhalte, ist das alles, was sie sehen. Ich gehe doch sowieso die ganze Zeit dort ein und aus. Ray weiß, dass jemand einen Schlüssel zu seinem Schreibtisch hat, aber er weiß nicht, dass ich es bin, und wenn alles klappt, wird er nicht einmal merken, dass ich die Dokumente gescannt habe.«
»Sie sind sich vollkommen sicher, dass er Hardcopys in seinem Büro hat?«
»Nicht vollkommen, nein, aber ich würde darauf wetten. Die Frage ist nur, wie man dafür sorgen kann, dass Ray und seine Kumpane
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