Quasikristalle: Roman (German Edition)
grinsend, und Xanes Stimme an seinem Ohr setzte fort: Die meisten leben ja nicht einmal mehr.
Ja, sagte er, die können nur noch liegen.
Aber das können sie gut, sagte Xane.
So gingen sie miteinander um, im besten Fall, von Herzen herzlos; wenn es gut lief, dann steckten sie einander die Pointen zu wie silbrige Münzen einer privaten Währung. Darin verstanden sie sich blind.
Er sah sie dabei genau vor sich: Sie zog die Augenbrauen hoch und legte die Stirn in Falten und schaute so, wie auch Amos als Kind geschaut hatte. Die Gesichter schoben sich in seinem Kopf manchmal übereinander, ihres und das von Amos. Bei ihren seltenen Wiedersehen war er meistens überrascht, wie alt Xane aussah. Oder geworden war. Er hatte sie inzwischen jünger in Erinnerung. Vielleicht blieben einem die eigenen Kinder irgendwann stehen, in einem Alter, das am besten zu ihnen passte. Es war der Ausdruck, den er klar vor Augen hatte, nicht das Gesicht an sich.
Mach keine Falten, hatte Helga immer gerufen, wenn Xane so dreinschaute, und Xane hatte zurückgeschnappt, ich mache Falten, so viel ich will. Das war zwischen den beiden sowieso ein Reizthema gewesen, diese seltsamen Hilfsmittel, die Helga offenbar in Anspruch genommen hatte, wenn sie von ihren ausgedehnten Aufenthalten auf burgenländischen Schönheitsfarmen zurückkam, woraufhin Xane beiläufig davon sprach, dass sie in Würde altern wolle, und dabei woanders hinsah.
Und jetzt war Helga schon so lange tot. Was Xane nicht verstand, war, wie wichtig es Helga gewesen war, bis zuletzt gut auszusehen, ›appetitlich‹, wie sie es damals bei ihrer eigenen Mutter genannt hatte. Selbst als Tote noch. Eine Frage der Selbstachtung. Helgas Mutter war in ihren letzten Jahren immer weniger geworden, sie hörte im Grunde zu altern auf, am Schluss war sie ein winzig-zarter, steinalter Engel mit seidigem Haar, der fast gar keine Falten hatte. Ist es nicht unwahrscheinlich, schluchzte Helga noch lange, dass sie fast gar keine Falten gehabt hat? Und sie zeigte wochenlang Fotos von ihrer Mutter herum, genau wie sie von den Enkeln überall Fotos gezeigt hatte, als sie auf die Welt gekommen waren. Jedes Mal, wenn jemand Helga kondolierte, zog sie das Foto aus der Handtasche und sagte: Schau, hat sie nicht gut ausgeschaut? Bis zum Schluss? So appetitlich!
Als stünde einem, solange man sich keine Falten zuschulden kommen ließ, das Recht auf ewiges Leben zu.
Auch Helga hat es geschafft, eine gutaussehende Tote zu sein. Dafür ist sie allerdings vor der Zeit gestorben. Ob sie lieber länger gelebt hätte, selbst um den Preis, dann nicht mehr ganz so appetitlich auszusehen? Schwer zu sagen. Zwischen ›nicht mehr ganz so appetitlich‹ und einem inkontinenten, total dementen Pflegefall lagen Welten.
Das Verrückte am Sterben war ja, dass man es bis zum letzten Moment für ausgeschlossen hielt, jedenfalls für sich selbst. Er persönlich glaubte den anderen Alten, die dauernd beteuerten, sie wünschten, es wäre endlich vorbei, kein Wort. Die hatten Schmerzen oder Langeweile, doch wenn man sie ihnen linderte, hätten sie aufs Sterben bestimmt keine Lust mehr.
Vor Kurzem hatte er wieder einmal in Eli Rozmburks Buch geblättert, das Xane damals mit herausgegeben hatte. In seinem letzten großen Interview sagte Eli: Der Tod ist mir schon so nah, ich habe keine Angst vor ihm. Aber nicht einmal ihm glaubte er das. Ja, jeder, der Eli nicht so gut gekannt hatte wie er, würde natürlich sagen, mein Gott, Rozmburk, der hat in seinem Leben so viel Tod gesehen, so viel Gewalt und Verbrechen, klar, dass so einer das Sterben nicht fürchtet. Weil die meisten, die damals überlebt haben, nachher Schuldgefühle hatten und daran litten, wie ungerecht es war, durch Zufall davongekommen zu sein. Weil für sie der Tod auch als Metapher für Erlösung von den quälenden Erinnerungen herhalten musste.
Aber er wusste es besser. Er würde Elis Blick nicht vergessen, als er ihn das letzte Mal besucht hatte. Eli war noch bei sich, konnte aber wegen des Schlauchs nicht mehr sprechen. Er, Kurt, saß an seinem Bett, betrübt, unbehaglich, und erzählte ihm irgendetwas, so als wäre alles normal. Doch bald gingen ihm die Worte aus, und er verabschiedete sich.
Bis nächsten Dienstag, sagte er. Denn was sollte man sonst sagen? Schön, dass du mein Freund warst, ich fürchte, diesmal sehen wir uns nicht wieder? Das konnte man nicht sagen. Wenn man davon wirklich überzeugt wäre, müsste man eigentlich sitzen bleiben, so
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