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Quasikristalle: Roman (German Edition)

Quasikristalle: Roman (German Edition)

Titel: Quasikristalle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Menasse
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er kämpfte um einen Rest von Überblick, er vergaß die Hälfte der Fragen, die zu stellen er sich wochenlang vorgenommen hatte, und er kam erst wieder richtig und voller Bedauern zu sich, wenn alles vorbei war. Das war ja alles altbekannt und banal, dass die Zeit schnell vergeht, wenn viel passiert, und langsam, wenn es fad ist. Aber je älter er wurde, desto extremer wurden die Unterschiede. Zeitwüsten gegen Zeitexplosionen. Wenn Xane endlich da war, würde er sich wie dieser moderne Tantalos fühlen, den es früher im Fernsehen gegeben hatte: der fuchtelnd in einer blinkenden Plexiglaszelle stand und von den um ihn herumwirbelnden Geldscheinen nicht einmal einen Bruchteil zu fassen bekam.
    Und nun hatte er tatsächlich die Zeit übersehen. Das heißt, er hatte nicht rechtzeitig daran gedacht, ein frisches Hemd anzuziehen. Er beeilte sich. Er wollte nicht im Unterhemd dastehen, wenn Amos zur Tür hereingestürmt kam. Wenn man sich beeilt, geht es meistens langsamer als sonst. Hoffentlich riss ihm nicht wieder ein Knopf ab. Wie alt war Amos jetzt eigentlich? Machte er nicht bald Matura? Kam Albert auch, oder würden sie ihn erst im Lokal treffen? Und wo überhaupt, ›Plachutta‹ oder ›Sacher‹? Hatte man ihm das überhaupt gesagt?
    Er schlüpfte in sein dunkelblaues Sakko. Er zupfte vor dem Spiegel gerade den Hemdkragen zurecht, da klopfte es an der Tür. Perfekt. Einen Moment früher wäre er erschrocken und hätte sich vielleicht im Ärmel verheddert, einen Moment später wäre er wahrscheinlich nervös ans Fenster getreten und hätte sich gefragt, wo sie blieben.
    Er öffnete die Tür. Da stand nur Xane in einer Jeansjacke, niemand sonst, keine lauten, herausgeputzten Familienherden, wie er sie erwartet hatte. Nachdem sie sich umarmt und geküsst hatten – in den letzten Jahren hatte sich Kurt angewöhnt, entschlossener hinzugreifen, auch ein bisschen zu streicheln, Schultern und Oberarme –, sagte Xane, aber Papa, das schöne Sakko heben wir lieber für morgen auf, oder?
    Für morgen, fragte er verständnislos.
    Entschuldige, sagte sie, ich misch mich schon wieder ein, vielleicht hast du ja noch ein anderes? Oder was wolltest du morgen Abend ins ›Plachutta‹ anziehen?
    Ja, schon das, murmelte Kurt, das hab ich für das ›Plachutta‹…
    Na, also, sagte Xane und half ihm aus dem Sakko, dann nehmen wir für heute ein sportlicheres. Und schon war sie an seinem Kasten, wählte etwas aus und zog es ihm an.
    Wo sind die anderen, fragte Kurt vorsichtig.
    Papa, Mor kommt erst morgen, das hab ich dir doch gesagt, es tut ihm leid, aber er hat heute einen wichtigen Termin. Und die Kinder sind in die Stadt gegangen, die waren so lange nicht mehr da, vielleicht stoßen sie später zu uns…
    Kurt entschuldigte sich, ging ins Bad, sperrte zu und lehnte sich von innen gegen die Tür. Dann schaute er auf die Uhr. Es war früher Nachmittag, und es war der vierte Mai. Sein Geburtstag war erst morgen. Heute war heute. Xane war gerade angekommen. Jetzt würden sie zum Friedhof fahren und dann ins Café gehen, ein bisschen plaudern. Er schüttelte den Kopf, ärgerlich über sich selbst, dann ließ er zur Tarnung herunter.
    Weißt du was, sagte er, als er herauskam, ich habe mir überlegt, den Friedhof können wir uns eigentlich sparen. Die Mama hat eh nichts davon, und wir denken auch so an sie. Wie findest du das?
    Xane schaute ihn überrascht an. Dann sah sie kurz zur Seite, strich ihren Gesichtsausdruck glatt und sagte, sicher, gern, wie du willst, du bist der Chef.
    In diesem Moment fiel ihm ein, dass das genauso vereinbart gewesen war. Telefonisch. Er erinnerte sich plötzlich an Xanes Sätze, an einiges sogar wörtlich, dass sie gern zum Grab gehe, das aber ebenso allein tun könne. Dass sie gut verstehe, wenn es ihm zu anstrengend und zu traurig sei – Papilein, du bist der Chef. Sollte er schnell sagen, dass es ihm wieder eingefallen war? Machte das irgendetwas besser?
    Wo möchtest du jetzt hingehen, fragte Xane, hast du einen Wunsch?
    Haben wir uns noch nichts überlegt, fragte Kurt zurück.
    Xane schüttelte den Kopf: Du hast gesagt, wir müssen aufhören, alles immer so genau zu planen. Du hast gesagt, du willst in Zukunft spontaner sein.
    Kurt lachte. Das hab ich gesagt? In Zukunft? Herrlich. Und weißt du was, Mädel? Dann gehen wir jetzt ins ›Schwarze Kameel‹ und lassen es krachen!
    Die wenigen Sitzplätze waren besetzt. Xane zögerte, doch Kurt sagte, so gebrechlich bin ich noch nicht. Sie stellten

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