Quasikristalle: Roman (German Edition)
gelangweilt hätte. Er hörte sich viele Bücher an, seit Albert ihm am Computer das Audio-Abo eingerichtet hatte, und er hatte Freunde, die ihn besuchten, mit denen er sich traf. Aber jede Woche, die vorbei war, war von hinten betrachtet eine weniger. Diese Sicht der Dinge, die einen zu allen Zeiten im Leben gelegentlich anfliegt, war nun die bestimmende.
Er hatte nicht mehr ewig Zeit.
Das war Xane nicht begreiflich zu machen.
Auf diesem Ohr war sie vollkommen taub.
Und er wusste nicht, war es Naivität – was zu Xane eigentlich nicht passte – oder Ignoranz.
Zugegeben, in dieser Familie hatten sie über Unangenehmes nur gesprochen, wenn es sich gar nicht mehr vermeiden ließ.
In einem bitteren Gespräch vor vielen Jahren – oder Jahrzehnten? – hatte Xane ihm dafür die Schuld gegeben. Ein Schweigegebot habe er aufgestellt, behauptete sie, den unausgesprochenen Befehl, über Probleme, Misserfolge, Unglück grundsätzlich nicht zu sprechen.
Kurt war entsetzt, sprachlos. Es war einer ihrer typischen, unerklärlichen Ausbrüche, die zum Glück in letzter Zeit seltener vorkamen. Beängstigend blieben sie.
Beide Kinder hatten gelegentlich diese Ausbrüche, die ihn erschreckten, Albert auch. Er wusste nicht, woher sie das hatten. Als wäre zu viel Temperament in ihnen, ein Überdruck, der manchmal abgelassen werden musste.
Was die sich immer aufregen können, hatte Helga in solchen Fällen schnippisch gesagt, dabei, das war sein Verdacht, hatten sie das eher von ihr. Von ihm bestimmt nicht.
Vielleicht begriff er zum ersten Mal, was Xane meinte, mit dem Schweigegebot. Er konnte sich nicht verständlich machen, ohne zu dramatisieren. Dramatisieren war ebenfalls etwas, das innerfamiliär als verachtenswert galt. Wir dramatisieren nicht, wir machen lieber Witze.
Er wollte sie viel öfter sehen, sie und Amos, auch die beiden großen Mädchen, die er immer gern gehabt hatte. Sie war so weit weg. Die Zeit wurde knapp. Dass sie das nicht selbst sah.
Bis dahin bin ich vielleicht tot, nörgelte er also jedes Mal am Telefon, und sie erwiderte fröhlich: Bevor du stirbst, ruf mich unbedingt an. Ich komm dann sofort, großes Ehrenwort.
Ja, so hatten sie immer miteinander geredet, aber langsam wurde das unstatthaft. Weil es kein Witz mehr war. Ihm wäre lieber, sie käme jetzt, ohne Not, wo er noch etwas davon hatte. Wenn es ans Sterben ging, wenn er aufhörte, appetitlich zu sein, konnten sie seinetwegen ruhig zu Hause bleiben, alle miteinander.
Nicht, dass er Albert sehr viel öfter gesehen hätte. Der wohnte in der Stadt, eine Viertelstunde mit dem Auto, der konnte theoretisch jederzeit kommen, also kam er praktisch nie. Natürlich öfter als Xane. Aber wenn er kam, war seine Anwesenheit vergleichsweise – flüchtiger. Albert schaute ihn nie richtig an. Er ging mit prüfendem Blick durch die kleine Wohnung, fragte, ob er etwas brauche, ob alles funktioniere, ob Birnen durchgebrannt seien. Dann fuhr er mit ihm in ein schönes Kaffeehaus zum Mittagessen und sprach auch mit vollem Mund ununterbrochen von seiner Arbeit. Er ging davon aus, dass Kurt nicht viel zu berichten hatte. Das stimmte, einerseits. Doch wenn es ein paar Pausen gegeben hätte, ein bisschen mehr Geduld von Alberts Seite, dann hätte Kurt von seinen Sorgen anfangen können, darüber, dass ihm nur noch wenig Zeit blieb und dass er sich panisch fragte, ob er diese Zeit nicht anders, besser nutzen könnte.
War er selbst auch so gewesen, als die Kinder klein waren? Wahrscheinlich. Zwar nehmen sich Kinder tyrannisch ihren Redeanteil, aber eigentlich hört man ihrem Geplapper nie richtig zu. Was haben Kinder und alte Leute schon zu erzählen. Der Erwerbstätige hat die Sorgen, die Verantwortung und damit die Hoheit über das Gespräch.
Nun war es so weit. Wie die Zeit vergeht. Zehn Wochenspeisepläne waren abgegessen, von dem, was er hatte zurückgehen lassen, hätte man vermutlich zwei bis drei hungernde Kinder durchgebracht, in einem weniger glücklichen Teil der Welt. Und gleich kam Xane mit der ganzen Familie, also mit Amos, Mor und zumindest einem der Mädchen, Kurt hatte vergessen, mit welchem.
Fast wünschte er, er könnte es noch ein bisschen hinauszögern, jetzt, da die Erfüllung der Wünsche so nah war. Das klang absurd, das wusste er. Aber sobald sie da waren, riss es ihn jedes Mal in einen Strudel aus Stimmen, Gesichtern und Emotionen, er fühlte sich, als könnte er sich gar nicht adäquat verhalten, nicht ausreichend auf alle eingehen,
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