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Quellen innerer Kraft

Quellen innerer Kraft

Titel: Quellen innerer Kraft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anselm Gruen
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Erinnerung. Cicero überliefert uns, dass die Griechen sich gegenseitig als Trost zugerufen haben: „Erinneredich, dass du als Mensch geboren bist!“ Sie sollten sich an ihre höhere Herkunft aus Gott erinnern. Sich dies bewusst zu machen, soll Wunden heilen. Der hl. Augustinus hat die Erinnerung als den wichtigsten Ort der Gotteserfahrung beschrieben. Im Innern der Seele begegnet der Mensch Gott, der ihm innerlicher ist als er selbst. Nach Augustinus erinnert sich der Mensch in der „memoria“ „seines Ursprungs und seiner Lebensquelle“ (R. Körner). Henri Nouwen hat die Gabe der Erinnerung als die wichtigste Aufgabe des Seelsorgers beschrieben. Denn, so seine Überzeugung, der Seelsorger soll die Menschen, die er begleitet, durch Erinnerung heilen. Ohne Erinnerung an die vergangenen Wunden gibt es keine Heilung. Aber es kommt darauf an, wie wir uns an das Vergangene erinnern. Wie wir uns fühlen, das hängt von der Art und Weise der Erinnerung ab. „Gewissensbisse sind eine bedrückende Erinnerung, Schuld ist eine anklagende Erinnerung, Dankbarkeit ist eine freudige Erinnerung, und all diese Gefühle sind tief beeinflusst davon, wie wir vergangene Erlebnisse in unser Dasein in dieser Welt einbezogen haben. In der Tat: wir nehmen unsere Welt mit unseren Erinnerungen wahr.“ Die Erinnerung an die vergangenen Wunden ist, so Henri Nouwen, die Voraussetzung, dass sie geheilt werden können. Er zitiert den deutschen Philosophen Max Scheler: „Sich Erinnern ist der Anfang der Freiheit von der heimlichen Macht der erinnerten Sache oder des erinnerten Ereignisses.“ Indem ich mich an die schmerzlichen Erlebnisse in meiner Lebensgeschichte erinnere, befreie ich mich von der destruktiven Macht dieser Erfahrungen. Ich räume gleichsam das Laub weg, das sich auf den Ackerboden meiner Seele gelegt hat. Nur so kann die Sonne der göttlichen Liebe die Blumen in mir hervorlocken.

    Es geht aber nicht nur um die schmerzlichen Erfahrungen, die wir gemacht haben und die wir natürlich auch nicht verdrängen dürfen. Ein Weg der Heilung besteht nämlich gerade darin, dass wir uns insbesondere an all die schönen Erlebnisse erinnern, die wir in unserem Leben ja auch hatten. Das können Erfahrungen sein, dass wir uns glücklich fühlten und im Einklang waren mit uns selbst. Das kann eine schöne Bergtour sein, eine beglückende Begegnung oder die Erfahrung, dass uns etwas gelungen ist. Wir sollten uns daran erinnern, wie wir früher eine Krise bewältigt haben. Jeder hat in sich eine Kompetenz, mit Schwierigkeiten umzugehen. Wenn wir uns an diese Fähigkeit bewusst erinnern, wird sie wieder in uns aktiviert.

    Diese therapeutisch heilsamen Aspekte verweisen auch auf eine theologische Heilsdimension, wenn wir uns in Erinnerung rufen, was Gott uns in unserem Leben geschenkt hat, wo wir ihn erfahren durften, wo er unsere Not gewendet und uns seine Liebe erwiesen hat. Der Glaube lebt wesentlich von der Erinnerung an Gottes Taten. Darin besteht ja das Wesen des Glaubens: dass wir mitten in den Turbulenzen unseres Lebens einen festen Stand haben. Die Liturgie lebt von der Erinnerung: Die Heilstaten Jesu werden erinnert und dadurch gegenwärtig. Wir haben teil an der heilenden Wirkung der vergangenen Geschehnisse, indem wir uns daran erinnern und sie in der Liturgie darstellen. Platon entfaltet ein ähnliches Konzept von Erinnerung. Für diesen griechischen Philosophen erinnert sich die Seele an ihr Wesen, das sie vor der Geburt hatte. Christlich könnte man sagen: Wir erinnern uns an unser wahres Wesen, an unseren göttlichen Kern, an das einmalige Bild, das Gott sich von uns gemacht hat. Die Erinnerung an dieses unser ursprüngliches undunverfälschtes Bild befreit uns vom Verhaftetsein an die Konflikte unseres Alltags. Es zeigt uns, dass mitten in den Turbulenzen unseres Lebens noch etwas anderes in uns ist. Das schafft uns innere Distanz, Freiheit und Gelassenheit.

    Verena Kast regt an, sich vor allem an Situationen zu erinnern, in denen wir uns gefreut haben. Wir sollten unsere Freudenbiographie schreiben. Indem wir uns erinnern, was uns in unserem Leben schon gefreut hat und wie wir dieser Freude Ausdruck gegeben haben, kommen wir in Berührung mit der Freude. Freude ist für Verena Kast eine gehobene Emotion, die etwas in uns in Bewegung bringt. Jeder weiß aus eigener Erfahrung, dass er gut und gerne arbeitet, wenn er in sich Freude spürt. Zwar wissen wir: Wir können die Freude nicht machen . Aber wir können uns an die

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