Quellen innerer Kraft
aber zugleich eine Aufgabe. Paulus schildert am Beispiel des Sportlers, dass man sich immer wieder auch trainieren muss. Enthaltsamkeit ist ein wesentlicher Begriff der griechischen Philosophie. Enkrates ist ein Mensch, der die Herrschaft und die Macht über etwas und vor allem über sich selbst hat. Vor allem die stoische Philosophie schätzte das Idealbild des freien, auf sich selbst gestellten Menschen, der von nichts beherrscht wird, sondern über alles in Freiheit herrscht. Er ist auch frei gegenüber seinen eigenen Trieben und Bedürfnissen. Paulus weist darauf hin, dass der geisterfüllte Mensch diese innere Freiheit von Gott geschenkt bekommt. Er muss seine Bedürfnisse und Triebe nicht bekämpfen. Er ist ihnen gegenüber frei, weil er sich vom Geist leiten lässt.
Wir sprechen manchmal – etwas altertümlich – auch von Zucht, wenn wir Selbstbeherrschung meinen. „Zucht“ kommt von „ziehen“. Diese Haltung verwirklicht der, der sich selbst führt, der sich dorthin zieht, wo er möchte, im Gegensatz zu einem Menschen, der von andern gezogenwird, der hin- und hergezogen wird, ohne sich wehren zu können. Selbstbeherrschung und Zucht sind eine Quelle von Kraft. Wer aus ihr schöpft, dem gelingt das Leben leichter. Er muss nicht immer wieder gegen seine Bedürfnisse oder gegen seine Launen und Schwächen ankämpfen. Er ist frei, sich dem zu widmen, was von außen her auf ihn zukommt und ihn herausfordert.
Weder für die stoische Philosophie noch für Paulus hat die Selbstbeherrschung etwas Verkrampftes an sich. Nicht der Mensch, der seine Zähne zusammenbeißt und alles unterdrückt, was in ihm an Emotionen und Leidenschaften auftaucht, ist das Ideal, sondern der in sich freie Mensch, der eine innere Distanz hat zu seinen Trieben. Es geht nicht um Unterdrückung. Denn Unterdrückung fixiert mich nur auf das, was ich gewaltsam bekämpfe. Vielmehr geht es darum, sich selbst in der Hand zu haben, sein Leben selbst zu formen, anstatt es von Bedürfnissen bestimmen zu lassen. Das gelingt aber nur, wenn ich meine Leidenschaften und Triebe anschaue und in Freiheit mit ihnen umgehe. Wer sich von seinen Leidenschaften beherrschen lässt, der verliert seine innere Kraft. Er lebt nicht aus der Kraft, die Gott ihm geschenkt hat. Er ist nicht „in der Kraft = en krateia“, sondern in der Macht fremder Kräfte, die ihm die eigene Kraft rauben. Wer seiner selbst mächtig ist, der hat auch die Macht, die Dinge um sich herum so zu gestalten, wie er es möchte.
Tugenden und Werte
Wir haben schon darauf hingewiesen: Letztlich sind alle Tugenden Quellen, aus denen wir Kraft schöpfen können. Die Lateiner sahen in den Tugenden nicht in erster LinieForderungen, die der Mensch zu erfüllen hat, sondern Gaben Gottes, die der einzelne aber für sich zu verwirklichen hat. Man könnte auch sagen: Die Tugenden sind für die Römer Kraftquellen, aus denen sich unser Leben speist.
Oft nennen wir die Tugenden auch Werte. Werte machen unser Leben wertvoll. Sie vermitteln uns unsere wahre Würde. Das englische Wort für Werte „values“ kommt vom Lateinischen „valere“. Valere heißt: gesund sein, sich wohl fühlen, gelten, kräftig sein. Die Werte sind also Quellen, aus denen wir unsere Gesundheit schöpfen, aber auch Quellen, die uns Kraft verleihen, damit wir unser Leben zu bewältigen vermögen. Wenn wir die Tugenden und Werte als Quellen unserer Kraft verstehen, dann verlieren sie den moralisierenden Beigeschmack, den ihnen vergangene Jahrhunderte oft mitgegeben haben. Sie werden zu etwas Wertvollem, was uns kräftigt, damit wir unser Leben bestehen. Und sie werden zu Quellen, aus denen wir Wohlempfinden und Gesundheit schöpfen.
Älter als die neun Früchte des Geistes, die Paulus im Galaterbrief aufzählt, sind die 4 Kardinaltugenden, die die griechischen Philosophen Platon und Aristoteles beschrieben haben. Es sind dies: Gerechtigkeit, Tapferkeit, Maß und Klugheit. Sie gelten für die Griechen als Inbegriff wahrer Menschlichkeit. Der Mensch soll auf seinem Weg der Selbstwerdung diese vier grundlegenden Tugenden verwirklichen. Zugleich sind die Tugenden aber auch Kräfte, die uns zur Verfügung stehen, damit unser Leben gelingt. Man nennt sie seit Aristoteles Kardinaltugenden. „Cardo“ meint die Türangel. Sie ist die Voraussetzung, dass wir eine Tür öffnen und schließen können. Von den Kardinaltugenden hängt es ab, ob wir Zugang zu unserem inneren Potential bekommen und ob unsere Kräfte auch nach
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