Quercher 01 - Quercher und die Thomasnacht
noch mehr über diesen Quercher erfahren, um seine Stärken und Schwächen, seine Anreizpunkte zu verstehen. Und dann musste er mit ihm reden. Es würde ihn anöden, mit einem subalternen Beamten zu sprechen statt mit dessen Vorgesetzten. Gleichwohl dachte Rieger, dass er einen Plan B benötigte. Einen Plan für den Fall, dass Quercher sein Angebot nicht würde annehmen wollen. Hudelmeier stand in den Startlöchern. Er hatte ihn gebeten, dieses Mal etwas unblutiger vorzugehen und ein paar Spuren bei dem Elektriker zu hinterlassen, damit er einen möglichen Täter hatte. Er wusste, dass er sich auf Hudelmeier verlassen konnte.
Brunner plapperte weiter, aber Rieger hörte schon nicht mehr zu. Als sie oben angekommen waren, ließ er Brunner aussteigen und fuhr gleich wieder ins Tal zurück.
Brunner stand am Rande der Rodelstrecke und blickte mit klammer Sorge der Gondel hinterher, in der Rieger saß. Und weil er mit dieser Sorge nicht allein sein wollte, griff Brunner im dichten Schneetreiben zu seinem Handy und wählte die Nummer seines Freundes Josef Schlickenrieder. Der brüllte, statt sich mit Namen zu melden, nur etwas Unverständliches ins Telefon, was Brunner als »Ich rufe zurück« interpretierte. Im Hintergrund vernahm er jedoch Schreien und lautes Weinen.
Spätestens jetzt war Brunner voller Angst.
Kapitel 30
Bad Wiessee, Mittwoch, 20. 12., 13.01 Uhr
Sie saß auf ihrer Matte und hatte eine Stunde lang ihren Körper gedehnt. Die Ruhe war nur für einen kurzen Moment zurückgekehrt. Mit jeder Übung war sie ihrem Entschluss näher gekommen: Sie ließ die Wut ihren Körper fluten, atmete ein und aus und ließ die Wut wieder gehen. Zurück blieb ihre Entscheidung. Sie würde all das um sie herum aufgeben. Ihre Tochter würde ihr Abitur in der Abgeschiedenheit ihres Sportinternats schaffen. Das bereitete ihr keine Sorge. Sie musste ihr zuliebe noch nicht einmal ein glückliches Weihnachtsfest im Kreise der Familie vortäuschen, nachdem die Tochter sich entschlossen hatte, die Festtage bei Freunden in den Bergen zu verbringen.
Aber ihr Leben würde eine neue Wendung erfahren. Sie würde einfach gehen. Vorhin hatte sie mit zitternden Händen den Flug gebucht. Heute Abend würde es losgehen. Ihre Sachen, ihr Pass, ihre Unterlagen, das Fotoalbum – all das lag bereits in ihrem Auto. Der Schlüssel steckte. Sie würde hinaus aus dem Tal fahren. In ein anderes Blau. Es klang so kitschig. Sie würde erst einmal nach Indien reisen, Yogaschulen besuchen. Ihre Yogalehrerin hatte ihr von einem Ort an der Südostküste Indiens mit dem Namen Auroville erzählt. Hier sollten Menschen aus vielen Nationen in friedlicher Eintracht zusammenleben. Dort wollte sie ihr altes Leben in langen Meditationen und Gesprächen vergessen.
Fernab all der Ängste, die das Tal mit sich brachte. Sie hatte sich entschlossen. Und dieser Entschluss war unumkehrbar. Max hatte ihr den letzten Stoß gegeben. Er war es – wieder einmal –, der ihrem Leben eine andere Wendung geben konnte.
Jetzt gab es kein Zurück.
Das war etwas, was Männer bei Frauen wie Elli nie verstehen würden. Lange, sehr lange hielten sie den Schmerz und die Einsamkeit aus. Wie ein Schwamm saugten sie alles Negative auf. Wirkten nach außen stark und leidensfähig. Aber irgendwann genügte ein kleiner Tropfen und dann war das Ende gekommen. Sie dachte nicht weiter als bis Indien. Was danach kam, war allemal besser als das Leben mit einem jähzornigen, brutalen Betrüger. Da sie nebenbei die komplette Buchhaltung der Firma erledigte, besaß sie auch den Überblick über die meisten Konten. So hatte sie in den letzten Jahren immer wieder geringe Summen auf ihr eigenes Konto transferiert. Sie würde nicht auf eine langwierige Scheidung warten. Elli wollte ihr Recht jetzt. Sie hätte ihren Mann ans Messer liefern können. Das, was sie dort oben auf dem Dachboden gefunden hatte, reichte aus, alle Schweinereien ihres Mannes und seiner Freunde aufzudecken. Aber ein letzter Funke Loyalität brannte noch in ihr. Sie wollte kein Trümmerfeld hinterlassen. Elli wollte einfach gehen.
Sie hörte den Schlüssel im Schloss. Drei Schritte zählte sie, bis er im Wohnzimmer stand. Schnee klebte an seinen Schuhen. Mit jedem Schritt hinterließ er auf dem Parkett dunkle Flecken, die, meist mit Streusalz vermischt, weiße Ränder bekommen würden, die sie nur auf den Knien wegschrubben konnte. Aber das wäre bald Geschichte.
Er rief sie. Elli antwortete nicht. Er rief lauter.
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