Querschläger
ein paar halbherzigen Worten des Widerspruchs, hatte Carola Mahler sogar erlaubt, dass ihre Tochter einen Spaziergang machte. Ich muss einfach mal für eine Weile an die Luft, hatte sie gesagt, und ihre Mutter hatte genickt und geflüstert: Pass auf dich auf, okay?
Tja, und nun saß sie also hier auf dieser Bank und überlegte fieberhaft, was sie tun konnte, um die Katastrophe abzuwenden, vor der sie sich schon so gottverdammt sicher gewähnt hatte. Wo würde ich ein Videoband verstecken, das meine Eltern auf keinen Fall zu Gesicht bekommen dürfen?, dachte sie, indem sie ihre eingeschlafenen Zehen bewegte. Ja wohl kaum zu Hause unter dem Bett, wo Mama oder die Putzfrau oder sonst jemand es jederzeit finden kann. Ein paar Playboy-Hefte, okay, das ging vielleicht gerade noch an für einen Jungen in Lukas Wertheims Alter. Aber ein Video, das eindeutig in die Kategorie »Softporno« fiel und den eigenen Sohn in ziemlich eindeutiger Pose mit einer Klassenkameradin zeigte? Oh nein, so was versteckte man garantiert nicht zwischen den Tennissocken im Schrank. Aber wo dann? Wo sonst, verdammt noch mal?
Jessica Mahler starrte über das graue Wasser hinweg und versuchte zu rekonstruieren, was sie von Lukas Wertheim wusste. Und das war zu ihrem Leidwesen weniger als nichts. Lukas Wertheim war groß gewesen. Er hatte umwerfend ausgesehen. Und er hatte Basketball und Tennis gespielt, beides mit recht beachtlichem Erfolg. In Mathe waren seine Leistungen dagegen nicht gerade berauschend gewesen, aber selbst die im Vergleich zu ihr selbst einigermaßen abgeklärte Frau Malgorias war Lukas Wertheims Charme erlegen und hatte seine mehr als mäßigen Arbeiten mit guten Epochalnoten entschärft. Jessica Mahler verzog die Lippen zu einem spöttischen Lächeln und beobachtete ein paar Tauben, die sich wenige Meter entfernt um ein Stück Brezel balgten. Lukas Wertheim hatte einen Führerschein besessen und zu seinem achtzehnten Geburtstag einen gebrauchten BMW bekommen, den er sich selbst ausgesucht hatte. So ein richtiger Angeberschlitten, schwarz mit blechernem Motorensound und tausend Extras, die niemand brauchte. Seine Eltern waren wohlhabend, um nicht zu sagen reich, und der Vater besaß dieses Wochenendhaus am Rande des Taunus, eine Art komfortable Jagdhütte. Jene Hütte, in die Lukas mit all seinen Eroberungen verschwunden war, freitag- oder samstagnachts, wenn es ihm in seiner Stammdisco zu langweilig wurde.
Und auch sonst hatte er sich gern dort aufgehalten. Oder?
Jessica Mahler runzelte die Stirn, als ein Erinnerungsfetzen durch ihre Gedanken zuckte. Da war irgendeine Sache gewesen, von der sie gehört hatte. Es hatte mit diesem Haus zu tun und … Ja, genau! Paintball! Lukas und sein Kumpel Steven hatten in den Wäldern rund um die verdammte Hütte irgendwelche obskuren Spielchen veranstaltet, bei denen sie mit Farbpatronen durch die Gegend geballert und ihren Opfern seltsame Mutproben abverlangt hatten. Jessica Mahler klatschte sich triumphierend auf die Oberschenkel. Wer hatte ihr noch gleich davon erzählt? Jemand, der einmal selbst dabei gewesen war, oder nicht? Sie rieb sich die Stirn, um besser denken zu können, doch es half nicht viel. Ihr Kopf war noch immer wie leer gefegt.
Sie schloss die Augen und versuchte sich die Hütte vorzustellen, weil sie hoffte, dass ihr eine bildliche Vorstellung von den räumlichen Gegebenheiten irgendwie auf die Sprünge helfen würde. Natürlich war es dunkel gewesen, als sie mit Lukas dort gewesen war, aber im Licht seiner Scheinwerfer hatte sie eine hölzerne Veranda erkannt. Und Tannen mit hohen, silbrig schimmernden Stämmen. Angeblich war auch ein kleiner Waldsee in der Nähe, aber davon hatte sie nicht viel mitbekommen. Dafür hatte Lukas ihr erzählt, dass sein Vater nicht mehr so oft dort hinauskomme wie früher, weil er seit einiger Zeit ein Verhältnis mit einer seiner Assistentinnen habe, irgendeine extrem junge Frau, die ihn angeblich mit Haut und Haaren fraß, weshalb sie also garantiert ungestört seien …
Jessica Mahlers Finger krampften sich um das spröde Holz der Bank, als unvermittelt wieder sein schönes, dunkles Gesicht vor ihr auftauchte.
Ich schätze, wir müssen uns mal unterhalten, wir beide, hatte er gesagt, zwei oder drei Tage nach … dieser Sache in der Hütte. Und zuerst hatte sie tatsächlich geglaubt, dass der umschwärmte Lukas Wertheim vielleicht doch ernsthafter an ihr interessiert war, als sie zunächst angenommen hatte. Dass er sie mit zu sich
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