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Querschläger

Querschläger

Titel: Querschläger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia Roth
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Ihre Schwester zweifelsohne begabt gewesen.«
    Winnie Heller nickte auch, überrascht, dass seine Bemerkung sie mit einem Gefühl von Stolz überschwemmte. »Sie wollte das beruflich machen«, bekannte sie so leise, als verrate sie ihm da gerade ein Staatsgeheimnis. »Pianistin, meine ich.«
    »Oh«, sagte er nur.
    Und sie sagte: »Tja dann«, und machte sich auf den Weg, den langen Flur entlang, Richtung Haustür.
    Verhoeven schien froh zu sein, nicht weiter über ihre Schwester reden zu müssen, und zuerst war sie wütend über diese Reaktion. Doch dann fiel ihr ein, dass er vielleicht einfach Angst hatte. Angst, etwas aufzuwühlen, das ihr wehtat. Eine alte, nur mühsam verheilte Wunde aufzureißen.
    »Und?«, erkundigte sie sich eine Spur versöhnlicher. »Was halten Sie von dem Jungen?«
    »Ich finde ihn, ehrlich gesagt, ziemlich abgebrüht. Und Sie?«
    Sie schüttelte nachdenklich den Kopf. »Ich glaube ihm.«
    Verhoeven schien ehrlich erstaunt zu sein. »Tatsächlich?«
    »Ja.«
    »Verraten Sie mir auch, warum?«
    Winnie Heller zuckte mit den Schultern. »Er scheint mir nicht der Typ zu sein.«
    »Was für ein Typ?«
    »Der Typ, der eiskalt über einen Haufen von Leichen geht, um sein Ziel zu erreichen«, versetzte sie ruppig. Verhoeven wollte Klartext? Okay, prima, dann redete sie Klartext! »Dieser Junge ist doch fast noch ein Kind. Und er scheint mir sehr sensibel zu sein.«
    »Wie kommen Sie darauf, dass er sensibel ist?«, fragte ihr Vorgesetzter, ohne eine Miene zu verziehen. »Weil er Klavier spielt?«
    »Auch«, entgegnete sie ausweichend, weil ihr die Anfechtbarkeit ihrer Einschätzung allmählich bewusst wurde. Doch Verhoeven dachte gar nicht daran, sie so einfach aus der Sache herauszulassen.
    »Folglich würden Sie jemanden, der Chopin spielt, per se für unfähig halten, einen Mord zu begehen?«, fragte er im gleichen freundlichen Tonfall wie zuvor.
    »Keinen Mord«, korrigierte sie ihn. »Ein Massaker.«
    Er blieb abermals stehen und sah ihr in die Augen. »Trotzdem eine gewagte These, die Sie da vertreten, finden Sie nicht?«
    Sie wollte ihm nicht mit Studien kommen, und sie wollte auch nicht sagen, dass es doch wohl allgemein bekannt sei, wie stark Musik auf die Menschen, die sie hörten, einwirke. Und dass man Chopin ja wohl kaum eine aggressionsfördernde Wirkung unterstellen könne. Also sagte sie nur: »Nein, das finde ich ganz und gar nicht.«
    »Aber finden Sie es denn normal, wenn ein Junge, der vor noch nicht einmal achtundvierzig Stunden nur um Haaresbreite dem Tod entronnen ist, die Ruhe hat, etwas so …« Er zögerte und suchte eine Weile nach dem passenden Wort. »… etwas so Wunderbares zustande zu bringen?«
    »Oh ja«, rief Winnie Heller mit einer Leidenschaft, die sie selbst überraschte. »Das finde ich durchaus normal. Wahre Musiker sind so. Es ist ihre Art von Flucht. Ihre Art der Verarbeitung. Und ihr Begriff vom Glücklichsein.« Sie trat in den trüben Spätnachmittag hinaus, der so farblos war, dass man den Eindruck gewinnen konnte, es wolle bereits wieder zu dämmern beginnen. »Manchmal der einzige, den sie haben.«
    Ihr Vorgesetzter lächelte ihr zu, und fast wollte es ihr scheinen, als ob er durch ihre flammende Verteidigungsrede ein wenig beschämt sei. »Vielleicht haben Sie recht«, sagte er, indem er seine Autoschlüssel aus der Tasche seiner Wildlederjacke zog. »Wir werden ja sehen …«
    6
     Jessica Mahler saß auf einer verwitterten Holzbank und starrte auf den Rhein hinaus, dessen bleigraue Farbe an diesem Nachmittag jeglicher Romantik entbehrte. Weit drüben, auf der anderen Seite des Flusses, zeichnete sich die Silhouette des Mainzer Doms vor dem fahlen Herbsthimmel ab, ein Anblick, den Jessica Mahler irgendwie tröstlich fand. Ein anderes Ufer. Ein anderes Bundesland. Das suggerierte unweigerlich eine gewisse Distanz, auch wenn all das in Wirklichkeit nur wenige Hundert Meter entfernt war.
    Sie hatte mit ihrer Mutter gegessen, sie hatten ein bisschen geredet, und zu ihrer eigenen Überraschung war es ihr gelungen, eine gewisse Gefasstheit vorzutäuschen, was nicht allzu schwer gewesen war, denn ihre Mutter war ihr in jeder erdenklichen Hinsicht entgegengekommen. Sie hatte sich Mühe gegeben, ihre Tochter nicht allzu offensichtlich anzustarren, und sich darüber hinaus auch jeglichen Kommentars zu den Vorfällen des gestrigen Abends enthalten, wahrscheinlich, weil Karen Ringstorff, ihre allwissende Freundin, ihr dazu geraten hatte. Und schließlich, nach

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