Querschläger
»Es ist schwer, was über Leute zu sagen, die tot sind«, sagte er nach einer Weile.
»Weil die Opfer solcher Tragödien allzu leicht zu Heiligen werden, denen ein Ehrenplatz im Gedächtnis der Hinterbliebenen sicher ist?«
»Ja«, murrte der Junge. »So ähnlich.« Seine Finger wischten über den Deckel, der die Tasten verbarg. »Mit Sonja habe ich mich immer ganz gut verstanden«, bemerkte er wie zu sich selbst. »Sie hatte auch Musik als Leistungskurs.«
»Sonja Perez?«, hakte Winnie Heller nach, indem sie an das Foto eines alles in allem eher unscheinbaren dunkeläugigen Mädchens dachte.
Sven Strohte nickte. »Sie war eine ganz passable Geigerin.«
Winnie Heller zog die Augenbrauen hoch. Ganz passabel, dachte sie. Dieser Junge ist genauso kritisch wie Elli! »Was ist mit Lukas Wertheim? Haben Sie sich auch mit dem gut verstanden?«
»Wir hatten nicht viel miteinander zu schaffen.«
»Warum nicht?«, fragte Verhoeven, der sich offenbar nicht dauerhaft mit der Rolle des Zuhörers zufriedengeben wollte.
»Lukas war ein borniertes Arschloch«, entgegnete Sven Strohte achselzuckend. »Einer, der sich selbst für den Nabel der Welt und alle anderen für hirnlose Schwachköpfe hielt.«
Die Direktheit seiner Formulierung entlockte selbst Verhoeven ein Schmunzeln. »Und Angela Lukosch?«
Dieses Mal ließ sich Sven Strohte ein wenig länger Zeit mit seiner Antwort, was Verhoeven die Gelegenheit zu einer neuerlichen Stichelei gab.
»Ich habe Fotos von ihr gesehen«, bemerkte er in beiläufigem Plauderton. »Angela Lukosch war ein entschieden attraktives junges Mädchen. Eins von der Sorte, die bestimmt gut ankommt bei den Jungs, denken Sie nicht?«
Bei den Jungs, dachte Winnie Heller. Bei den anderen, bei denen, die nicht im Abseits stehen …
Am Flügel atmete Sven Strohte tief durch. »Sie war ziemlich beliebt, ja.«
»Auch bei Ihnen?«
»Angela Lukosch wusste nicht mal, dass ich existiere, okay?«, versetzte der Junge mit einer Miene, die bei aller zur Schau getragenen Gleichgültigkeit auch einen Hauch von Schmerz verriet, und Winnie Heller überlegte, ob Sven Strohte in Angela Lukosch verliebt gewesen war. Natürlich hatte auch sie die Fotos gesehen, von denen Verhoeven gesprochen hatte. Und natürlich hatte auch sie registriert, dass Angela Lukosch ein hübsches Mädchen gewesen war. Allerdings hatte sie selbst diese Attraktivität insgeheim als eher vordergründig eingestuft. Ein billiger Abklatsch jener leeren Gesichter, die tagtäglich die Klatschspalten der Yellow Press füllten. Gelangweilte Girlies mit zu viel Geld auf dem Konto und einer deutlich angeknacksten seelischen Gesundheit, die hauptsächlich durch Trinkfestigkeit und den gelegentlichen Verzicht auf Unterwäsche von sich reden machten. Ihre Augen glitten über Sven Strohtes Hände, die bei aller Zartgliedrigkeit erstaunlich kräftig waren, und sie fragte sich, warum ein Junge wie er ausgerechnet an einem Mädchen wie Angela Lukosch Gefallen gefunden hatte. Und wie sehr es ihn getroffen haben musste, dass sein Interesse ganz offenbar nicht auf Gegenliebe gestoßen war.
Angela Lukosch wusste nicht mal, dass ich existiere …
Verhoevens Überlegungen schienen derweil in eine ähnliche Richtung zu gehen. »Klavierspielen ist ziemlich uncool, was?«, sagte er. »Als Hobby, meine ich.«
Winnie Heller fühlte, wie eine Welle der Empörung ihr das Blut in die Wangen trieb, auch wenn sie wusste, dass ihr Vorgesetzter ihren Zeugen im Grunde nur aus der Reserve locken wollte. Immerhin war Verhoeven im ganzen Präsidium dafür bekannt, dass er klassische Musik liebte und dass er, wann immer es seine Zeit erlaubte, in die Oper oder ins Konzert ging.
»Ich spiele nicht Klavier, um anderen zu gefallen oder nicht zu gefallen«, entgegnete Sven Strohte, der die Provokation, die in Verhoevens Bemerkung gesteckt hatte, anders als bei vorangegangenen Gelegenheiten nicht einmal bemerkt zu haben schien.
»Sondern?«
»Ich spiele, weil ich spielen muss.«
Genauso hätte Elli es auch ausgedrückt, dachte Winnie Heller, und sie ertappte sich dabei, wie sie Sven Strohte mit neuem Wohlwollen musterte. Ein Junge, der es gewiss nicht leicht hatte. Seine Familie stellte hohe Anforderungen an ihn. Noch dazu, wo die beiden älteren Brüder so überaus erfolgreich waren. Ein Mathematiker, ein Computerspezialist … Und dann ein Musiker! Ausgerechnet! Schlagworte wie »brotlose Kunst« oder »nutzlose Bohemiens« schossen ihr durch den Sinn, und auf einmal
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