Querschläger
Phantasie des Amokschützen
WIE ICH DEM KILLER ENTKAM
Ein Schüler des Clemens-Brentano-Gymnasiums berichtet
Da malte er noch Landschaften … Attentäter Nikolas H., hier bei der Eröffnung einer Schulausstellung seiner Bilder
DIE OHNMACHT IN ALLMACHT VERWANDELN
Was jugendliche Amokläufer umtreibt
Samstag, 22. September 2007
1
Winnie Heller erwachte gegen vier Uhr in der Frühe mit dem unbequemen Gefühl, etwas Wichtiges übersehen zu haben. Da war irgendetwas, das sich in ihrem Unterbewusstsein festgesetzt hatte, ohne dass sie es fassen oder auch nur näher eingrenzen konnte. Etwas, das sie gehört oder gesehen und nicht wichtig genug genommen hatte. Falsch eingeordnet, dachte sie, ohne zu wissen, was sie mit dieser Assoziation anfangen sollte. Du hast die Zuordnung vermasselt!
Schlaftrunken richtete sie sich im Bett auf und blickte aus dem Fenster in den pechschwarzen Himmel über der Stadt. Gott, wie sie solche kryptischen Botschaften aus den Tiefen ihrer Seele hasste!
Dieses Gefühl von Unruhe, wie ein blinkendes rotes Licht auf einem Schaltpult, das man einfach nicht ignorieren konnte. Winnie Heller zerrte an ihren Haaren, als könne sie ihrer Erinnerung auf diese Weise auf die Sprünge helfen, aber alles, was ihr einfallen wollte, war die Frau, die am vergangenen Dienstag die Tür zu Lübkes Laube geöffnet hatte und die seither durch ihre Gedanken stolperte wie eine korpulente Traumgestalt. Marie …
Marie hat mir erzählt, dass du verletzt gewesen bist.
»Wenn diese fette, alte Kuh doch bloß ihre verdammte Klappe gehalten hätte«, fluchte Winnie Heller vor sich hin. »Wenn sie einfach gesagt hätte, es habe sich jemand in der Tür geirrt. Dann hätte Lübke mich in Ruhe gelassen, und ich wäre niemals in Versuchung geraten, derart viel von mir preiszugeben!«
Sie dürfen Augenblicke der Schwäche nicht als Niederlagen begreifen, erklärte ein imaginärer Dr. Zilcher. Sie können uns, im Gegenteil, auch …
»Und du hältst auch die Klappe!«, fauchte Winnie Heller und schwang die Beine aus dem Bett. Sie kannte sich gut genug, um zu wissen, dass sie ohnehin nicht wieder einschlafen würde, da konnte sie genauso gut aufstehen.
Sie schleppte sich zu ihrer Arbeitstheke hinüber und schaltete die Kaffeemaschine ein. Doch das ungute Gefühl in Bezug auf ihr Gespräch mit Lübke ließ nicht nach. Genau wie bei den Sitzungen ihrer Therapiegruppe hatte sie die unbequeme Empfindung, etwas von sich preisgegeben zu haben, das sie lieber für sich behalten hätte. Winnie Heller verzog abfällig das Gesicht, als ihr etwas einfiel, das Werneuchen gesagt hatte. Wer sich jahrelang durch die verschiedensten Therapiegruppen ackert, wird wahrscheinlich zwangsläufig zu einem exzellenten Menschenkenner. Tja, dachte sie, wenn das zutrifft, müsste ich diesen Devil eigentlich an seiner Nasenspitze erkennen, sobald ich ihm begegne.
Aber leider, leider, leider lagen die Dinge nicht ganz so einfach!
Winnie Heller öffnete die Tür zu ihrem Freisitz, und sofort flutete ein Schwall kühler Regenluft herein. Es wird tatsächlich schon wieder Herbst, dachte sie. Bald jährt es sich zum ersten Mal, dass ich bei der Mordkommission bin. Meine Versetzung und Ellis Tod, etwas, das für mich bis in alle Ewigkeit verknüpft bleiben wird. Ein Sinnbild für die nahe Verwandtschaft zwischen Erfolg und Verlust.
Seltsamerweise hatte sie noch immer nicht das Gefühl, dass seither etwas Neues begonnen hatte. Sie schob es auf ihre Verbeamtung, oder vielmehr auf ihre Nichtverbeamtung, aber vielleicht lag es auch daran, dass sie im Grunde einfach weitergemacht hatte. Statt in ein Krankenzimmer ging sie jetzt auf den Friedhof. Statt an einem verdreckten kleinen Schreibtisch im Drogendezernat saß sie nun in ihrem Büro im KK11, das entschieden komfortabler war, wie sie unumwunden zugeben musste. Nichtsdestotrotz wollte sich das Gefühl des Neubeginns irgendwie nicht einstellen. Und insgeheim wartete sie bis heute darauf, dass jemand sagte: Willkommen, Winnie Heller, in Ihrem neuen Leben. Treten Sie ein und fühlen Sie sich wie zu Hause!
Sie seufzte und schloss gegen den erbitterten Widerstand eines auch heute wieder unangenehm böigen Westwinds die Balkontür. Dann nahm sie den letzten sauberen Kaffeebecher aus dem Schrank und dachte wieder an die Person, hinter der sie her waren. An Devil. Waren sie ihm vielleicht wirklich schon begegnet? Hatten sie ihm – oder ihr – am Ende sogar schon gegenübergesessen? Devil ist ein
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