Querschläger
Verhoeven stutzte. Die Schritte, die ich gehört habe, kamen aus dem westlichen Treppenhaus, flüsterte Miranda Kerr in seinem Kopf. Ich bin mir ganz sicher, dass der zweite Schütze aus der gleichen Richtung kam, in die Nikolas verschwunden ist. Aber dann hätten sie einander doch eigentlich begegnen müssen, oder? Nicht, wenn Laurin von oben kam, dachte Verhoeven. Wenn er auf halber Treppe zum vierten Stock gelauert hätte, gewartet, bis Hrubesch sein zerstörerisches Werk in der dritten Etage beendet hatte, und über das Treppenhaus nach unten verschwunden war. Aber warum?, widersprach er sich selbst. Was sollte Laurin im dritten Stock gewollt haben, wenn es ihm nicht um Angela Lukosch, sondern um Beate Soltau ging? In diesem Zwischengebäude gibt es verschiedene Durchgangsmöglichkeiten, um den Schülern ein schnelleres Erreichen von Kursräumen im jeweils anderen Teil der Schule zu ermöglichen, hörte er Lars Höppners Stimme sagen, und zwar im Erdgeschoss sowie im zweiten und im dritten Stock … Laurin hat Hrubesch überholt, fuhr es Verhoeven durch den Sinn. Er ist ein Stockwerk über dem jungen Amokschützen ins Nebengebäude, und dann hat er Hrubesch erschossen. »Oskar?«, wandte er sich wieder an Bredeney. »Nimm dir die Aussagen von Laurins Klasse noch mal vor und sieh zu, ob du da irgendwas findest, das uns weiterhilft. Und kümmer dich auch um eine mögliche Verbindung zu Milan Baranovic.«
»Geht klar.«
»Vielleicht steht Laurin in Baranovics Diensten«, setzte Verhoeven hinzu, als ihm etwas in den Sinn kam, dass Nicole Herrgen gesagt hatte. Eigentlich ist Sander wohl gar kein Lehrer, jedenfalls kein richtiger. Beate hat mir mal erzählt, dass er von Haus aus Kunsthistoriker ist. Oder Restaurator. Angeblich hat er an der Düsseldorfer Akademie studiert, und er hat sogar einen Doktortitel. Laut sagte er: »Ein Mann wie Baranovic mag sich zwar auf alle möglichen krummen Geschäfte verstehen, aber er hat ganz sicher nicht genug Ahnung von Kunst, um selbst entscheiden zu können, ob ein Geschäft profitabel ist oder nicht. Da braucht er jemanden, der ihm sagt, ob das, was ihm angeboten wird, auch seinen Preis wert ist.«
»Unter diesen Umständen sollten wir vielleicht auch Auerbach mit ins Boot holen«, schlug Bredeney vor. »Immerhin verfolgt er diese Sache mit dem Kunstzeugs schon seit längerem, und vielleicht weiß er etwas, das uns weiterbringt.«
»Gute Idee«, sagte Verhoeven. »Lass ihn anpiepsen, wenn er nicht ohnehin Dienst hat. Frau Heller kommt ins Präsidium und wird ihn dort treffen. Ach ja, und schick ein Team zu Laurins Haus. Sie sollen den Kerl nicht aus den Augen lassen, bis wir klar sehen.«
»Da wäre ich jetzt nicht drauf gekommen«, murrte Bredeney.
»Nichts für ungut«, sagte Verhoeven und unterbrach die Verbindung. Dann wandte er sich wieder an seine Kollegin, die vor lauter Ungeduld nervös wirkte wie ein Rennpferd vor dem Start. »Holen Sie das Foto aus der Akte und reden Sie mit Auerbach. Und dann kommen Sie auf direktem Weg in die Wohnung von Beate Soltau, okay?«
»Okay«, rief sie, schon auf halbem Weg zu ihrem Wagen. »Bis dann.«
13
»Sven Strohte ist noch immer nicht aufgetaucht«, meldete Bredeney über Funk, als Winnie Heller gerade wieder in ihren Polo gestiegen war. Sie hatte das Foto geholt und mit Auerbach gesprochen. Lars Höppners Leute hatten unterdessen in der Villa der Familie Strohte Position bezogen, doch der junge Pianist war bislang nicht nach Hause gekommen. Er hatte sich kurz nach seiner Führerscheinprüfung einen alten Ford zugelegt, den er – darauf legte sein vitaler Selfmade-Vater ausdrücklich Wert – mit Klavier- und Nachhilfestunden finanziert hatte. Mit diesem Wagen war er jetzt unterwegs. Wohin, konnte niemand sagen.
Ich an seiner Stelle würde mich auch hüten, nach Hause zu fahren, dachte Winnie Heller, indem sie den Schlüssel ins Zündschloss schob. Schließlich ist er nicht dumm. Er hat die Leiche gesehen und kapiert, dass er ein zweites Mal als Sündenbock herhalten soll. Und wahrscheinlich denkt er, dass wir ihm das Gerede von seiner Unschuld nicht noch einmal abnehmen werden. Der arme Kerl hat ja keine Ahnung, dass wir es längst besser wissen!
Sie hatte während der gesamten Rückfahrt von der Waldhütte über die Frage nachgegrübelt, warum Sander Laurin ausgerechnet Steven Höhmann getötet haben mochte. Aber dann war ihr eingefallen, dass es wahrscheinlich um Paintball ging, jenes angebliche
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