Querschläger
bemerkte Dr. Gutzkow mit einem sarkastischen Blitzen in den grauen Wissenschaftleraugen. »Denken Sie nur an Robert Steinhäuser und diesen Geschichtslehrer … Wie hieß der noch gleich?«
»Heise«, antwortete Verhoeven wie aus der Pistole geschossen.
Gütiger Gott, dachte Winnie Heller, dieser Mann hat ein Gedächtnis wie ein Elefant! Oder hatte er sich am Ende irgendwie vorbereitet? Auf die Schnelle, bevor er sie angerufen hatte? Hatte er über sein Handy im Internet recherchiert, während er bei McDonald’s gestanden und auf seine vermaledeiten Burger und Fritten gewartet hatte?
»Genau, Heise«, brummte derweil Dr. Gutzkow, die gleichfalls beeindruckt schien. »Mit dem hat sich Steinhäuser doch damals angeblich auch unterhalten.«
»Was dem armen Mann eine ganze Menge Ärger eingebracht hat, wenn ich mich recht entsinne«, entgegnete Verhoeven lapidar.
»Wie auch immer«, beeilte sich Winnie Heller, das Gespräch wieder auf das Hier und Jetzt zu lenken. »Wenn wir jetzt einfach mal voraussetzen, dass Sven Strohte die Wahrheit sagt, dann hat Hrubesch mit dem Kerl, der ihn ein paar Sekunden später erschossen hat, geredet. Und wenn er mit ihm geredet hat …«
»… dann wusste dieser zweite Mann auch, dass Hrubesch nach seinem Amoklauf ins Untergeschoss des Neubaus kommt«, ergänzte Dr. Gutzkow, die allmählich Gefallen an solcherlei Gedankenspielen zu finden schien.
»Da wird kein Schuh draus«, fiel Verhoeven den beiden Frauen mit entwaffnender männlicher Logik ins Wort.
Winnie Heller stutzte. »Und warum nicht?«
»Weil in diesem Fall der Komplize auch etwas von Hrubeschs Sündenbock-Plan, sprich: Sven Strohtes Anwesenheit, gewusst haben würde, oder nicht?« Er blickte zwischen Dr. Gutzkow und seiner Kollegin hin und her. »Und wenn er davon gewusst hätte, würde er wohl kaum zugelassen haben, dass Strohte davonkommt, um uns von den Schritten und dem Schuss und dem vorausgegangenen Geplänkel zu berichten. Immerhin war dieser Kerl sogar gründlich genug, um die Plastikfolie zu entfernen, damit wir an das Märchen vom Selbstmord glauben. Allerdings …« Er unterbrach sich und verzog unwillig das Gesicht. »Allerdings basieren unsere Kenntnisse sowohl von dem Geplänkel als auch von dieser verdammten Folie lediglich auf den Aussagen eines als Hasenfuß verschrienen Mitschülers, dem wundersame Kräfte zuwachsen, sobald er sich einer geladenen Waffe gegenübersieht.«
Winnie Heller starrte in ihren Kaffeebecher hinunter. »Aber Nikolas Hrubesch ist tot«, suchte sie ihr Heil in der Wiederholung einer altbekannten Tatsache. »Und inzwischen wissen wir auch mit Sicherheit, dass er sich nicht selbst erschossen hat.«
»Womit wir also wieder bei der Annahme wären, dass unser ominöser zweiter Mann Hrubeschs Plan nur in Teilen kannte«, schloss Verhoeven.
»Vielleicht war diese Sündenbock-Variante Hrubeschs ureigene Idee«, schlug Winnie Heller vor, während sie das bleiche Antlitz des toten Amokläufers ansah, als könne sie dort eine Bestätigung für ihre These finden. »Vielleicht war Sven Strohte Nikolas Hrubeschs Trumpfkarte, von der er seinem Partner wohlweislich nichts erzählt hat.«
»Somit hätten sie also beide falsch gespielt«, resümierte Dr. Gutzkow kopfschüttelnd.
»Sieht ganz danach aus«, sagte Winnie Heller, bevor sie mit Todesverachtung den Rest ihres inzwischen erkalteten Kaffees hinunterkippte und den leeren Becher auf dem Tisch mit der Thermoskanne abstellte.
Verhoeven tat es ihr gleich. »Wie schnell können Sie die Herkunft der übrigen Projektile klären?«, wandte er sich dann noch einmal an Dr. Gutzkow. »Wir müssen wissen, wer hier eigentlich wen erschossen hat, bevor wir auch nur den Hauch einer Chance haben, den Hintergründen dieser Tragödie auf die Spur zu kommen.«
»Ich flehe Sie an, geben Sie uns noch ein paar Stunden«, stöhnte die Pathologin, indem sie ihrerseits an den Tisch trat und sich einen weiteren Becher ihres scheußlichen Kaffees eingoss. Und wie an sich selbst gewandt fügte sie hinzu: »Mann, Mann, Mann, det wird ’ne verdammt lange Nacht!«
IV
Nikolas arbeitet konzentriert und zügig. Er rechnet fließend im Zahlenraum bis 20. Geübte Diktate sind fehlerfrei. Für Religion und Sachunterricht zeigt er großes Interesse. Seine Mitarbeit am Unterricht dürfte reger sein.
Beurteilung der Grundschullehrerin,
Juni 1997
Die Klassenkonferenz hat am 25.02.2000 über den weiteren Schulbesuch Ihres Kindes beraten und empfiehlt für Ihr Kind den
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