Querschläger
absuchte. Seine Arme fühlten sich an, als seien sie mit Blei gefüllt, und auch seine Beine waren taub vor Muskelkater. Verhoeven dachte an die Bauruine in seinem Garten und fragte sich, wann er dazu kommen würde, den Teich, auf den sich seine Tochter so sehr freute, fertigzustellen …
»Hören Sie?«
»Ja.« Er klemmte das Handy zwischen Schulter und Ohr fest und notierte die Namen, die Dr. Gutzkow ihm durchgab. »Und vielen Dank nochmals, dass Sie das alles so schnell möglich gemacht haben«, sagte er, als die Pathologin geendet hatte.
»Ach wat, keene Ursache«, berlinerte Dr. Gutzkow zurück. »Ham Se vielleicht sonst noch irgendwelche Wünsche?«
»Ja«, entgegnete Verhoeven mit einem leisen Schmunzeln. »Gehen Sie schlafen.«
»Morgen«, lachte sie und knallte den Hörer auf, bevor er noch etwas sagen konnte.
Verhoeven schob das Handy wieder an seinen Gürtel zurück und sah seine Kollegen an. Hinnrichs hatte ihnen Oskar Bredeney, einen langjährigen Weggefährten von Verhoevens verstorbenem Partner Karl Grovius, als Unterstützung zugeteilt. Dazu Stefan Werneuchen, einen auf Recherche spezialisierten Beamten. Zu fünft saßen sie nun schon seit Mitternacht im Sitzungszimmer ihrer Abteilung. Geschlafen hatte niemand. In den frühen Morgenstunden waren sie, einer nach dem anderen, nach Hause gefahren, um zu duschen und frische Kleider anzuziehen. Keiner von ihnen hatte sich mehr als eine halbe Stunde Zeit dafür genommen. Seither redeten sie. Spekulierten. Bissen sich fest.
Vor dem Fenster war die Morgendämmerung einer regentrüben Helligkeit gewichen, die in ihrer Unentschlossenheit vortrefflich zu der Stimmung passte, die seit Stunden über dem zerkratzten Konferenztisch schwebte. Irgendjemand hatte belegte Brötchen besorgt, die nahezu unangetastet zwischen den Thermoskannen in der Mitte des Tisches standen. Links und rechts davon stapelten sich Berge an Informationen, deren Wert oder Unwert zu diesem frühen Zeitpunkt niemand einzuschätzen wagte. Die Beamten aus Höppners Sondereinheit versorgten sie beinahe stündlich mit neuen Bulletins.
Die toxikologische Untersuchung hatte ergeben, dass Nikolas Hrubesch zum Zeitpunkt seiner Bluttat nicht unter dem Einfluss von Medikamenten oder Drogen gestanden hatte. Man hatte die Eltern des Attentäters an einen geheimen Ort gebracht, um sie noch einmal ausgiebig zu vernehmen, aber auch, um sie vor eventuellen Racheakten zu schützen. Und ja, Nikolas Hrubesch sei zweifelsfrei Linkshänder gewesen. Vor etwas mehr als einer halben Stunde hatte Höppner höchstpersönlich angerufen. Spezialisten des BKA hatten Hrubeschs Computerdateien und die Chipkarte seines Handys ausgewertet und auch die Internetkontakte des jungen Amokschützen überprüft. Nikolas Hrubesch hatte seine Spuren im Web zwar geschickt verwischt, war dabei offenbar jedoch nicht allzu gründlich gewesen, was Verhoeven nicht wunderte. Schließlich hatte der junge Attentäter kaum mit einer Überprüfung rechnen müssen, wenn sein Plan aufgegangen wäre. Dann wäre er ein Schüler wie jeder andere gewesen. Einer von Hunderten, die dem Massaker entkommen waren. Ein Opfer.
Aber seine Pläne waren fehlgeschlagen, und die Computerspezialisten des BKA hatten einen Kontakt zu einer bislang noch unbekannten Person rekonstruieren können, die sich selbst »Devil« nannte. Derzeit bemühten sich die Experten fieberhaft darum, diesen bislang vielversprechendsten Hinweis auf einen möglichen Hintermann weiterzuverfolgen, während auf der anderen Seite des großen Teiches die kanadische Staatspolizei mit Hochdruck nach Sven Strohtes Onkel fahndete.
Und nun stand also auch fest, welche der elf Todesopfer des Amoklaufs von der Person erschossen worden waren, die auch Nikolas Hrubesch durch einen aufgesetzten Kopfschuss getötet hatte. Verhoeven nahm seine Notizen zur Hand. »Angela Lukosch, Karla Oppendorf und Beate Soltau, die Schulsekretärin«, gab er die Informationen, die er soeben von Dr. Gutzkow erhalten hatte, an seine Kollegen weiter, und in ihren Gesichtern konnte er lesen, dass sie genauso überrascht waren wie er selbst.
Die Fotos aller elf Todesopfer des Amoklaufs hingen an einem Pinboard an der Wand, weitere Abzüge lagen überall auf dem Tisch verstreut, und inzwischen waren ihnen die Gesichter der Toten so vertraut, als hätten sie jeden einzelnen von ihnen persönlich gekannt.
Eine Abiturientin, eine Fünfzehnjährige und eine Sekretärin, resümierte Verhoeven im Stillen. Nicht gerade
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