Quicksilver
Predigthof, und schaute zu den Fenstern der königlichen Gemächer auf, allerdings nicht lange – er versuchte, den Eindruck zu erwecken, als käme er ständig hierher. Ein kleiner Nebengang unter dem Ende der Privy Gallery führte ihn in die Ecke des Privy Garden, einer ausgedehnten Parkfläche. An ihrem Rand entlang verlief parallel zum Fluss eine weitere Galerie, durch die er bis zum königlichen Bowling-Grün und von dort nach Westminster hätte gelangen können. Doch vorläufig hatte er genug Aufregung erlebt – er ging stattdessen quer durch den großen Park in Richtung Holbein Gate zurück. Überall spazierten und plauderten Höflinge. Daniel drehte sich immer wieder um und blickte zum Fluss hin, um die Unterkunft des Königs und der Königin und ihres Hauswesens zu bewundern, die sich im goldenen Schein unzähliger darin leuchtender Kerzen über dem Park erhob.
Wenn Daniel wirklich der Lebemann gewesen wäre, den er noch vor ein paar Minuten gespielt hatte, hätte er nur Augen für die Leute in den Fenstern und auf den Parkwegen gehabt. Er hätte sich angestrengt, irgendetwas mitzubekommen – einen neuen Trend im Schnitt persischer Westen oder zwei wichtige Persönlichkeiten, die in einer schattigen Ecke miteinander tuschelten. So aber gab es ein und nur ein Spektakel, das seinen Blick anzog wie der Polarstern einen Magneteisenstein. Er kehrte der Behausung des Königs den Rücken und blickte nach Süden über den Park und das Bowling-Grün hinweg Richtung Westminster.
Dort war hoch auf einer verwitterten Stange eine Art unregelmäßige Knolle aufgepflanzt, die im Mondlicht gerade noch als grauer Fleck erkennbar war: der Kopf von Oliver Cromwell. Bei seiner Rückkehr vor zehn Jahren hatte der König befohlen, den Leichnam dort, wo Drake und die anderen ihn begraben hatten, auszuscharren, ihm den Kopf abzuschneiden, diesen auf einer Pike aufzupflanzen und nie wieder herunterzunehmen. Seither schaute Cromwell hilflos auf die Szenerie ungezügelter Lüsternheit herab, die Whitehall Palace war. Und nun schaute er, der einst Drakes jüngsten Sohn auf dem Knie geschaukelt hatte, auf ihn herab.
Daniel legte den Kopf zurück, blickte zu den Sternen auf und dachte, dass dies alles von Drakes Warte im Himmel aus tatsächlich wie die Hölle aussehen musste – und er, Daniel, war mittendrin.
Im Tower von London eingesperrt zu sein hatte Henry Oldenburgs Prioritäten nachhaltig verändert. Daniel hatte damit gerechnet, dass der Sekretär der Royal Society sich kopfüber in den großen Sack mit ausländischer Post stürzen würde, den er ihm mitgebracht hatte, aber ihm lag offenbar nur an den neuen Lautensaiten. Er war zu dick geworden, um sich sonderlich effektiv zu bewegen, deshalb schaffte Daniel aus verschiedenen Winkeln des halbmondförmigen Raums das Nötige herbei: Oldenburgs Laute, zusätzliche Kerzen, eine Stimmgabel, einige Notenblätter, mehr Holz für das Feuer. Oldenburg legte sich die Laute übers Knie wie einen ungezogenen Jungen, dem eine Tracht Prügel zugedacht ist, knotete dem Instrument ein, zwei Stücke Darm um den Hals, die als Bünde dienen sollten (die alten waren völlig abgegriffen), und tauschte dann zwei gerissene Saiten aus. Es folgte eine halbe Stunde des Stimmens (die neuen Saiten dehnten sich immer wieder), dann endlich bekam Oldenburg, wonach er sich wirklich sehnte: Er und Daniel saßen sich mitten im Raum gegenüber und sangen ein zweistimmiges Lied, das so geschickt komponiert war, dass ihre Stimmen sich gelegentlich zu wohlklingenden Akkorden verbanden: Die gebogene Wand der Zelle wirkte dabei ganz ähnlich wie der Spiegel in Newtons Fernrohr und warf den Schall zu ihnen zurück. Nach ein paar Strophen konnte Daniel seine Stimme auswendig, weshalb er sich, als er zum Refrain kam, gerade setzte, das Kinn hob, laut zur Wand hin sang und dabei die von Gefangenen vergangener Jahrhunderte in den Stein gekratzten Graffiti las. Keineswegs vulgäre Graffiti, wie man sie vom Gefängnis von Newgate kannte – das meiste davon war auf Lateinisch verfasst, groß und feierlich wie ein Grabstein, und es gab astrologische Diagramme und von gefangenen Hexenmeistern eingeritzte Zaubersprüche in Runenschrift.
Sodann ein paar Schluck Ale zur Kühlung der Stimmbänder, eine Rehfleischpastete, ein Fässchen Austern und einige von der R. S. gestiftete Orangen, und Oldenburg sortierte rasch die Post – ein Stapel mit den neuesten Begebenheiten aus dem Salon des Hotel Montmor in Paris, ein paar
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