Quicksilver
war, um ein paar Liter Blut aus Anne Hydes Jugularvene abzuzapfen. Links von ihm, ungefähr in Richtung Fluss, befand sich offenes Gelände – mittlerweile eine riesige Baustelle mit einer Seitenlänge von etwa einer Meile, an deren gegenüberliegender Ecke Charing Cross lag. Da es Nacht war und keine Arbeiter da waren, schien es, als wüchsen Steinfundamente und Mauern aufgrund irgendeines Vorgangs von Urzeugung aus dem Boden, wie Pilze, die mitten in der Nacht aus dem Boden schießen.
Von hier aus war es möglich, Comstocks Haus in seine Umgebung einzuordnen: Eigentlich war es nur eines von mehreren vornehmen Häusern, die gegenüber dem St. James’s Palace entlang der Piccadilly aufgereiht waren wie zur Parade angetretene Soldaten. Dazu zählten unter anderem Berkeley House, Burlington House und Gunfleet House. Aber nur Comstock House hatte den direkten Palastblick die Allee hinunter.
Er spürte ein riesiges Tor knirschend aufgehen, hörte würdevolles Gemurmel und sah, dass John Comstock, Arm in Arm mit Pepys, aus seinem Haus getreten war. Er war dreiundsechzig Jahre alt, und Daniel hatte den Eindruck, dass er sich ganz leicht auf Pepys stützte. Aber er war mehr als einmal in der Schlacht verwundet worden, sodass man nicht unbedingt auf Altersschwäche schließen konnte. Daniel sprang zur Kutsche, holte Isaacs Fernrohr heraus und ließ es vom Kutscher sicher auf dem Dach verstauen. Dann setzte er sich zu den anderen dreien, die Kutsche wendete und ratterte quer über die Piccadilly und die Allee entlang auf den St.James’s Palace zu.
John Comstock, Earl von Epsom, Präsident der Royal Society und Berater des Königs in allen naturphilosophischen Fragen, trug eine persische Weste – ein schweres, rockartiges Kleidungsstück, das zusammen mit der Krawatte der letzte Schrei bei Hofe war. Pepys war ähnlich ausstaffiert, Wilkins trug vollkommen altmodische Kleidung, und Daniel war wie üblich als mittelloser, wandernder Puritaner von vor zwanzig Jahren gekleidet. Nicht, dass irgendwer ihn beachtete.
»So spät noch bei der Arbeit?«, wollte Comstock von Pepys wissen, dessen Kleidung er offenbar irgendeinen Hinweis entnahm.
»Das Zahlamt hat in letzter Zeit außerordentlich viel zu tun«, sagte Pepys.
»Der König war mit Geldangelegenheiten beschäftigt – jedenfalls bis vor kurzem«, sagte Comstock. »Jetzt ist er darauf bedacht, seine Aufmerksamkeit wieder seiner ersten Liebe zuzuwenden – der Naturphilosophie.«
»Dann haben wir etwas, das ihn entzücken wird – ein neues Fernrohr«, begann Wilkins.
Aber Fernrohre standen nicht auf Comstocks Tagesordnung, deshalb ignorierte er die Abschweifung und fuhr fort: »Seine Majestät hat mich beauftragt, morgen Abend in Whitehall Palace eine Versammlung einzuberufen. Der Herzog von Gunfleet, der Bischof von Chester, Sir Winston Curchill, Ihr, Mr. Pepys und ich sind eingeladen, zusammen mit dem König einer Demonstration beizuwohnen: Enoch der Rote wird uns Phosphorus zeigen.«
Kurz vor dem St. James’s Palace bog die Kutsche nach links auf die Pall Mall ab und fuhr weiter in Richtung Charing Cross.
»Lichtträger? Was ist das?«, fragte Pepys.
»Eine neue elementare Substanz«, sagte Wilkins. »Sämtliche Alchimisten auf dem Kontinent sind ganz aus dem Häuschen darüber.«
»Woraus ist sie gemacht?«
»Sie ist aus nichts gemacht – das bedeutet elementar !«
»Von welchem Planeten stammt sie? Ich dachte, sämtliche Planeten wären schon vergeben«, wandte Pepys ein.
»Enoch wird es erklären.«
»Hat sich denn in der anderen Angelegenheit der Royal Society etwas getan?«
»Ja!«, sagte Comstock. Er schaute Wilkins in die Augen, bedachte Daniel jedoch mit einem ganz kurzen Seitenblick. Wilkins antwortete mit einem ähnlich kurzen Nicken.
»Mr. Waterhouse«, sagte Comstock, »ich freue mich, Euch folgende Order von Lord Penistone 21 übergeben zu dürfen«, und er zog ein furchteinflößendes Dokument hervor, an dessen unterem Rand ein dickes Wachssiegel baumelte. »Zeigt dies morgen Abend den Wachen am Tower – und während wir uns am einen Ende von London befinden und der Demonstration des Phosphors beiwohnen, werdet Ihr und Mr. Oldenburg am anderen zusammenkommen, damit Ihr Euch um seine Bedürfnisse kümmern könnt. Ich weiß, dass er neue Saiten für seine Theorbe braucht – Federkiele – Tinte – bestimmte Bücher – und dann gibt es natürlich noch eine gewaltige Menge ungelesener Post.«
»Das heißt, von GRUBENDOL ungelesen«,
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