Quicksilver
Vergleich, Herr Doktor. Die Bibliothèque du Roi bietet Euch also die größtmögliche, derzeit existierende Annäherung an Gottes Verständnis von der Welt.«
»Dem wir mit einer größeren Bibliothek noch näher kommen könnten.«
»Aber bei allem schuldigen Respekt, Herr Doktor. Ich verstehe nicht, wie diese Straße hier der Rue Vivienne im Entferntesten ähneln kann – wir haben keine solche Bibliothèque in England.«
»Die Bibliothèque du Roi ist bloß ein Haus, müsst Ihr wissen, ein Haus, das Colbert zufällig in der Rue Vivienne gekauft hat – wahrscheinlich als Geldanlage, denn diese Straße ist das Zentrum der Goldschmiede. Alle zehn Tage, von zehn Uhr morgens bis zum Mittag, schicken sämtliche Kaufleute von Paris ihr Geld in die Rue Vivienne, um es zählen zu lassen. Ich sitze dort in Colberts Haus, versuche Descartes zu verstehen, bearbeite die mathematischen Beweise, die mein Lehrer Huygens mir aufgibt, und blicke zum Fenster hinaus, während sich die Straße mit Trägern füllt, die unter ihrer Gold- und Silberlast schwanken und auf wenige Türen zusteuern. Beginnt Ihr mein Rätsel nun zu verstehen?«
»Welches Rätsel?«
»Diesen Kasten! Ich habe gesagt, er enthielte etwas unendlich viele Wertvolleres als Gold, das aber dennoch nicht gestohlen werden könne. Wo müssen wir hier abbiegen?«
Denn sie waren dem Wirbelsturm entkommen, wo Threadneedle, Cornhill, Poultry und Lombard Street aufeinander trafen. Laufburschen schwirrten über diese Kreuzung wie Bolzen von einer Armbrust – oder (argwöhnte Daniel) wie Winke mit dem Zaunpfahl, die er nicht verstand.
London beherbergte hundert Lords, Bischöfe, Prediger, Gelehrte und vornehme Philosophen, die Wilkins mit Freuden ein bequemes Krankenbett zur Verfügung gestellt hätten, aber er war im Hause seiner Stieftochter in der Chancery Lane, gar nicht weit von den Waterhouses, untergekommen. Am Eingang und auf der Straße davor drängten sich schwitzende Höflinge – nicht die gepflegten der oberen Ränge, sondern die leicht ramponierten, zernarbten, ein wenig zu alten und ein wenig zu hässlichen, die alles am Laufen hielten. 28 Auf der Straße quirlten sie um eine schwarze, mit dem Wappen des Grafen Penistone versehene Kutsche. Das Haus war alt (das Feuer war ein paar Ellen davor zum Erliegen gekommen), eines jener leicht zusammengesackten Fachwerkgebäude mit Strohdach aus der Zeit der Canterbury Tales, von der schimmernden Kutsche und den peitschendünnen Rapieren vollkommen aus der Mode gebracht.
»Sehr Ihr – trotz der Reinheit Eurer Beweggründe steckt Ihr bereits mittendrin in der Politik«, sagte Daniel. »Die Dame des Hauses ist Cromwells Nichte.«
»Was? Des Cromwell?«
»Desselben, dessen Schädel von der Spitze einer Stange aus auf Westminster herabschaut. Und der Besitzer dieser vortrefflichen Kutsche ist Knott Bolstrood, Graf Penistone – sein Vater gründete eine Sekte mit Namen Barkers, die normalerweise mit vielen anderen unter der abwertenden Bezeichnung Puritaner in einen Topf geworfen wird. Die Barkers allerdings sind unnötig radikal – sie glauben beispielsweise, dass Staat und Kirche nichts miteinander zu tun haben und dass sämtliche Sklaven in aller Welt befreit werden sollten.«
»Aber die Herren vor dem Haus sind gekleidet wie Höflinge! Wollen sie das Puritanerhaus etwa belagern?«
»Sie sind Bolstroods Trabanten. Graf Penistone, müsst Ihr wissen, ist Minister Seiner Majestät.«
»Gehört hatte ich schon, dass König Charles II. einen Fanatiker zu seinem Minister gemacht hat, aber ich konnte es nicht glauben.«
»Überlegt doch – könnte es Barkers in irgendeinem anderen Land geben? Das heißt, abgesehen von Amsterdam.«
»Natürlich nicht!«, sagte Leibniz, von dem bloßen Gedanken leicht befremdet. »Man würde sie ausrotten.«
»Deshalb bleibt Bolstrood, ob er dem König nun treu ergeben ist oder nicht, keine andere Wahl, als für ein freies und unabhängiges England einzutreten – und wenn Dissenter dem König allzu große Nähe zu Frankreich vorwerfen, braucht Seine Majestät nur auf Bolstrood als den lebenden Beweis für seine unabhängige Außenpolitik zu zeigen.«
»Aber das ist doch alles eine Farce!«, murrte Leibniz. »Ganz Paris weiß, dass England in Frankreichs Tasche steckt.«
»Das weiß auch ganz London – der Unterschied besteht darin, dass wir hier drei Dutzend Theater haben – und Paris nur eines -«
Nun war es an Leibniz, verblüfft zu sein. »Das verstehe ich
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