Quicksilver
Federball zurückschnellen.
Er ist sich ziemlich sicher, dass er mittlerweile tot ist.
Er ist von anderen toten Männern umgeben.
Sie liegen auf dem Oberdeck.
Zwei Seeleute sitzen auf Daniels Leichnam, während ein dritter sein dahingegangenes Fleisch mit einer Nadel quält. Ihm die abgetrennten Körperteile wieder annäht, die Löcher in seinem Leib schließt, damit nichts herausläuft. So also hat man sich als herrenloser Hund in den Klauen der Royal Society gefühlt!
Da Daniel auf dem Rücken liegt, ist sein Blick im Wesentlichen gen Himmel gerichtet, doch wenn er den Kopf dreht – für einen Toten eine erstaunliche Leistung – kann er oben auf dem Poopdeck van Hoek sehen, der in sein Sprachrohr bellt – das über die Reling hinweg fast senkrecht nach unten zielt.
»Worauf brüllt er denn da ein?«, fragt Daniel.
»Um Vergebung, Herr Doktor, habe nicht gewusst, dass Ihr aufgewacht seid«, sagt eine hoch aufragende Schattengestalt, die mit Dappas Stimme spricht und einen Schritt zurückmacht, um Daniels Gesicht gegen die Sonne abzuschirmen. »Er verhandelt mit bestimmten Piraten, die unter Parlamentärsflagge von Teachs Schiff hergerudert sind.«
»Was wollen sie?«
»Sie wollen Euch, Herr Doktor.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Ihr denkt zu viel nach – da gibt es nichts zu verstehen – es ist ganz einfach«, sagte Dappa. »Sie sind hierher gerudert und haben gesagt: ›Gebt uns Dr. Waterhouse, und alles ist vergessen.‹«
Dr. Waterhouse müsste jetzt eigentlich längere Zeit verblüfft sein. Aber seine Verblüffung währt nur kurz. Das Gefühl von einem knotigen Seidenfaden, der energisch durch frische Löcher in seinem Fleisch gezogen wird, macht ernsthaftes Nachdenken ganz unmöglich. »Und Ihr werdet es natürlich tun«, ist das Beste, was ihm darauf einfällt.
»Jeder andere Kapitän würde es tun – aber wer immer Euch auf diesem Schiff untergebracht hat, muss über die Gefühle Kapitän Hoeks Piraten gegenüber Bescheid gewusst haben. Seht!« Und Dappa tritt beiseite, um Daniel freien Blick auf ein Schauspiel zu gewähren, das seltsamer ist als alles, wofür Gaffer auf dem Jahrmarkt von St. Bartholomew Geld ausgeben würden: ein hammerhändiger Mann, der in die Takelage eines Schiffes hinaufsteigt. D.h. einer seiner Arme endet nicht in einer Hand und nicht in einem Haken, sondern wirklich und wahrhaftig in einem Hammer. Van Hoek klettert auf eine angemessen gefährliche Höhe, nämlich bis zu der Stelle, wo am Besanmast die Flaggen wehen: eine holländische Flagge und darunter eine kleinere, welche die Ägis darstellt. Nachdem er sich hinreichend sicher in den Wanten verhakt, d.h. Gliedmaßen mit Tauen verflochten hat, sodass sein Körper gewissermaßen mit der Takelage verspleißt ist, beginnt er Nägel aus seinem Mund zu pflücken und sie durch den Saum jeder Flagge in das Holz des Mastes zu treiben.
Es scheint nun, als befänden sich sämtliche Seeleute, die nicht gerade auf Daniel sitzen, oben in der Takelage und machten ein aberwitzig großes Aufgebot an Segeln los. Dass endlich auch das Hauptsegel gesetzt wird, findet Daniels Beifall – diese Scharade ist vorüber. Und außerdem nimmt nun, da die Bramstengen nach oben ausgefahren werden, auf wundersame Weise die Höhe der Minerva zu. An zerbrechlich wirkenden Rahen bläht sich eine asymptotische Folge immer kleinerer Trapezoide.
»Eine glanzvolle Geste, die der Kapitän da macht – nun, da er die Hälfte von Teachs Flotte versenkt hat«, sagt Daniel.
»Ja, Herr Doktor – aber nicht die bessere Hälfte«, sagt Dappa.
City of London
1673
Eine fünfte Doktrin, die zur Auflösung eines Gemeinwesens beiträgt, besagt, dass jeder Privatmann ein absolutes Eigentumsrecht an seinen Gütern hat, dergestalt, dass es sogar das Recht des Souveräns ausschließt .
Hobbes, Leviathan
Natürlich hatte Daniel nie selbst als Schauspieler auf einer Bühne gestanden, aber wenn er Stücke in Roger Comstocks Theater besuchte – besonders wenn er sie zum fünften oder sechsten Mal sah -, empfand er es als überaus merkwürdig, wie diese Männer (und Frauen!) da auf einer Plattform standen, zum hundertsten Mal den Text eines Manuskripts hersagten und sich so zu verhalten suchten, als würden nicht Hunderte von Menschen sie aus kurzer Entfernung beglotzen. Es war seltsam manieriert, hohl und falsch, und alle, die daran teilhatten, wollten das Schauspiel insgeheim absetzen und zu etwas Neuem übergehen. So wartete London im dritten holländischen
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