Quicksilver
Brücken waren zerstört, sodass niemand auf diesem Weg hinein- oder hinausgelangen konnte. Um den gesamten übrigen Teil der Stadt legte sich das türkische Lager, am schmalsten an den zwei Stellen, wo sie den Fluss berührte, in der Mitte aber genauso ausladend wie Wien selbst – gleichsam eine Mondsichel mit der Stadt zwischen ihren Spitzen. Es war eine wogende Welt aus barbarisch bunten Zelten und Fahnen und Wimpeln, aus der die Ruinen der abgebrannten Wiener Vorstädte hier und da wie die Spanten von Schiffswracks aus der Meeresgischt herausragten.
Zwischen dem türkischen Lager und der christlichen Stadt lag ein Gürtel, den ein naiverer Mensch als leeres (wenn auch sonderbar geformtes und ausgemeißeltes) Gelände betrachtet hätte. Jack, ein geübter Fachmann, konnte sich mittels Blinzeln und Hin- und Herneigen des Kopfes vorstellen, das es ebenso dicht mit kreuz und quer verlaufenden Visierlinien und Flugkurven von Kanonenkugeln und anderen geometrischen Ingenieursfantasien gefüllt war wie der Raum über einem Schiffsdeck mit Seilen und Takelung. Denn auf diesen Korridor zwischen Lager und Festung hatten die Ingenieure Anspruch erhoben – was jeder, der ihn betrat, in genau der kurzen Zeitspanne erkannte, die eine Gewehrkugel brauchte, um ihn zu überqueren. Das Reich der Ingenieure, hatte Jack festgestellt, war im Aufstieg begriffen, so wie ältere im Verfall. Genau wie Türken und Franken ihre eigenen Baustile hatten, so übten Ingenieure sich immer und immer wieder an denselben Formen: abgeschrägte, durch Erdaufschüttungen stabilisierte Mauern (um Kanonenkugeln abzulenken und aufzunehmen), die in verschachtelten Zickzackverläufen angelegt waren und an jeder Ecke ein Bollwerk besaßen, von dem aus auf jeden geschossen werden konnte, der versuchte, die benachbarten Mauerteile zu besteigen. Oh, Wien besaß auch eine Mauer aus der Zeit vor der Ingenieursära: einen dünnen, oben mit Zinnen versehenen Vorhang aus Mauerwerk. Doch der war, von den neuen Anlagen umgeben und in den Schatten gestellt, nur noch eine altertümliche Kuriosität.
Außer dieser Kathedrale gab es in Wien nur ein weiteres Gebäude, das einen zweiten Blick wert war, und das war ein prachtvolles großes cremefarbenes Gebäude mit vielen Fenstern, fünf Stockwerke hoch und einen Schuss mit der Armbrust lang; am Rand der Stadt erbaut, ragte es hoch über die Mauer, mit seinen Flügeln nach hinten hinaus, zwischen denen für ihn auf ewig unerreichbare Höfe lagen. Das war offensichtlich der Palast des Heiligen Römischen Kaisers. Er hatte ein steiles hohes Dach – eine Menge Platz auf dem Speicher – mit einer Reihe winziger, von lustigen Kupferkuppeln wie von Pickelhauben gekrönter Dachgauben. Jede Gaube hatte ein kleines Fenster und durch eins davon konnte Jack, davon war er (trotz der sehr großen Entfernung) überzeugt, eine weiß gekleidete Gestalt herausschauen sehen. Er hätte sich gerne irgendetwas mit einer gefangenen Prinzessin, deren Aufsehen erregender Rettung und einer Belohnung zurechtgebastelt; doch zwischen ihm und der Person, die aus dem Fenster geschaut hatte, gab es gewisse Komplikationen, nämlich, dass direkt unterhalb des Palastes ein gewaltiges Bollwerk in das Glacis getrieben war, der Pflugschar eines Riesen gleich, die ein leeres Feld teilt, und genau diese Bastion hatte der Großwesir sich für seinen Angriff ausgesucht.
Anscheinend hatten die Türken es zu eilig gehabt, um Belagerungsartillerie durch ganz Ungarn zu rollen, und so zerstörten sie Schaufel um Schaufel das Werk der Ingenieure. Wiens Mauern und Bollwerke waren von glatter regelmäßiger Form gewesen, sodass die Handarbeit der Türken so offensichtlich war wie ein Maulwurfshügel in einem herzoglichen Bowlingrasen. Sie hatten in ein ehedem vollkommen glattes Glacis eine Großstadt aus Gräben gezogen. Jeder Graben war von dem Dreck umgeben, den man aus ihm hinausgeworfen hatte, was ihm das geschwollene Aussehen einer infizierten Wunde verlieh. Ein paar dieser Gräben führten geradewegs aus dem Herzen des türkischen Lagers zum Kaiserpalast, doch das waren die Prachtstraßen unter den Gräben, von denen rechts und links unzählige Sträßchen abzweigten, die in der Regel parallel zur Stadtmauer und so nah nebeneinander verliefen wie möglich, ohne dass sie einbrachen. Diese Gräben waren wie die Sprossen einer horizontalen Leiter, auf der die Türken bis zu den ersten Vorschanzen, den außerhalb liegenden pfeilförmigen Erdwällen zwischen den
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