Quicksilver
Bastionen, vorgedrungen waren. Hier waren sie unter die Erde gegangen und hatten die Vorschanzen untergraben, die Minen mit Schwarzpulver gefüllt und in die Luft gejagt, wodurch dort, wo vorher Mauern gestanden hatten, Lawinen entstanden waren – so wie geschmolzenes Wachs, das von der Spitze einer Kerze herabläuft und ihre regelmäßige Form durch eine klumpige Kaskade stört. Dann waren quer über diesen unregelmäßigen Schutthaufen frische Gräben gezogen worden, was die Türken in die Lage versetzte, Musketen auf die Stadtmauer zu richten, um ihre Schanzgräber und Grubenarbeiter zu schützen, während sie Stich um Stich durch den trockenen Festungsgraben vordrangen. Jetzt griffen sie die große Bastion unmittelbar vor dem Palast auf dieselbe Weise an. Es war jedoch eine langsam fortschreitende Art von Krieg, so als beobachte man einen Baum dabei, wie er einen steinernen Zaun in sich aufnahm, und im Augenblick passierte gar nichts.
Alles schön und gut; die Frage, die Jack im Kopf herumspukte, lautete jedoch: Wo war die beste Kriegsbeute zu finden? Er wählte ein paar mögliche Ziele aus, sowohl im türkischen Lager als auch in der Stadt Wien selbst, und prägte sich bestimmte Orientierungspunkte ein, anhand derer er, wenn alles verraucht und durcheinander war, finden konnte, was er begehrte.
Als er sich umdrehte, um zum Lager zurückzukehren, entdeckte er, dass, nur einen Steinwurf entfernt, noch ein anderer Mann hier oben auf dem Berg stand: vielleicht eine Art Mönch oder Heiliger, denn er trug eine schmucklose Robe aus grobem Sackleinen. Doch dann zog der Bursche ein Schwert. Es war keiner von den nadeldünnen Stoßdegen, die Stutzer in den Straßen von London oder Paris sich gegenseitig in die Rippen jagten, sondern eine Art Relikt aus der Zeit der Kreuzzüge, ein zweihändiges Teil mit einer einzigen Querstange anstelle eines richtigen Handschutzes – so ein Ding, wie Richard Löwenherz es benutzt haben könnte, um in den Straßen Jerusalems Kamele zu erschlagen. Dieser Mann ließ sich im Staub auf ein Knie nieder, und er tat es mit Schwung und Enthusiasmus. Beobachtete man, wie ein reicher Mann sich in der Kirche hinkniete, wofür er zwei oder drei Minuten brauchte, konnte man seine Knie knacken und seine Sehnen knirschen hören, er wankte hierhin und dorthin und verschaffte damit den Dienern, die ihn am Ellbogen festhielten, kurze Schrecksekunden. Doch dieser grob wirkende Mensch hier kniete sich mühelos, ja geradezu lustvoll hin, wenn es so etwas überhaupt gab, und pflanzte, der Stadt Wien zugewandt, sein Schwert in den Boden, sodass es ein stählernes Kreuz wurde. Die Morgensonne schien direkt in sein graues Gesicht, schimmerte auf dem Stahl der Klinge und leuchtete in ein paar Juwelen von unbestimmter Farbe, die in Griff und Parierstange der Waffe eingelegt waren. Der Mann neigte den Kopf und fing an, lateinische Worte zu murmeln. Die Hand, die nicht das Schwert hielt, zählte mit dem Daumen einen Rosenkranz durch – Jacks Zeichen, nach rechts von der Bühne abzutreten. Doch während er das tat, erkannte er in dem Mann mit dem Breitschwert König Johann Sobieski.
Vormittags wurde jedem Mann eine Ration Branntwein zugeteilt – war es doch ein militärischer Grundsatz, dass ein betrunkener Soldat ein tüchtiger Soldat war. Der Branntwein gab den Männern zumindest etwas, worum sie spielen konnten, und so kamen Würfel und Karten aus Taschen heraus. Das hatte zur Folge, dass Jack ein halbes Dutzend Branntwein-Rationen im Bauch hatte und seine Waffenbrüder ihn argwöhnisch anfunkelten und in fremden Sprachen üble Anschuldigungen ausstießen. Doch dann erklangen wieder Trompeten und Trommeln, und schon waren sie auf den Beinen (Jack allerdings nur mit Müh und Not) und marschierten von neuem stundenlang umher, den Blick auf den Rücken des Vordermanns geheftet, am Horizont, wohin das Auge sah, ein Fell aus Bajonetten und Piken.
Wie ein Unwetter, das auf die Berge niedergefallen war, wälzten die Kompanien und Regimenter sich zwischen Bäumen hindurch in Schluchten und durch Schluchten in Täler und kamen in schwarzen donnernden Fluten zusammen, die schließlich hinaus auf die Ebene schäumten und auf Wien zustürzten.
Die Artillerie begann zu feuern, erst auf einer Seite, dann auf der anderen. Doch falls Männer durch türkische Kartätschen reihenweise niedergemäht wurden, so passierte das nicht in Jacks Nähe. Sie rückten im Laufschritt vor. Sie marschierten aus heißer klarer Luft
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