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Quicksilver

Quicksilver

Titel: Quicksilver Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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an Cambridge zusammenzukratzen, stellt er zu seinem Leidwesen fest, dass sich in seinem Schädel seit einem halben Jahrhundert ein ganz ähnlicher Vorgang abspielt.
    Die Eindrücke, die er in jenen Jahren empfing, waren ebenso unendlich vielgestaltig wie die, denen sich ein Konquistador gegenübersah, wenn er sein Langboot auf ein unerforschtes Gestade zog. Befremdung im alten und wörtlichen Sinne des Verschlagenwerdens in eine unwegsame Wildnis war das Los des Forschers, und der Begriff beschrieb treffend Daniels Gemütszustand in seinen ersten Jahren am Trinity. Die Analogie war keineswegs sehr weit hergeholt, denn Daniel hatte sich kurz nach der Restauration eingeschrieben und fand sich unter jungen Männern von Stand wieder, die den größten Teil ihres Lebens in Paris verbracht hatten. Ihre Kleidung stach Daniel ganz ähnlich ins Auge wie das prächtige Gefieder tropischer Vögel einem schwarz gewandeten Jesuiten, und ihre Rapiere und Dolche waren nicht weniger tödlich als die Fänge und Krallen von Dschungelraubtieren. Als nachdenklicher Bursche hatte er schon am allerersten Tag versucht, daraus schlau zu werden – der Sache auf den Grund zu gehen wie der Forscher, der Orang-Utans und Orchideen den Rücken zukehrt, um seine Pfanne in den Schlick eines Bachbetts zu rammen. Erbracht hatte das Ganze nichts als herumwirbelnden Schlamm.
    In den seither vergangenen Jahren ist er nur selten zu jenen alten Erinnerungen zurückgekehrt. Während er es nun in der Schänke beim Harvard College tut, stellt er zu seiner Verblüffung fest, dass der trübe Wirbel fortgeschwemmt worden ist. Fünfzig Jahre hat sich die geistige Pfanne gedreht, hat Schmutz und Sand an die Peripherie befördert und ausgeschieden. Die meisten Erinnerungen sind einfach fort. Geblieben sind nur ein paar winzige Nuggets. Ihm ist unklar, warum ausgerechnet diese Eindrücke geblieben sind, während sich andere, die ihm damals ebenso wichtig oder noch wichtiger erschienen, verflüchtigt haben. Doch wenn das Bild vom Goldwaschen stimmig ist, so heißt das, dass diesen Erinnerungen mehr Gewicht zukommt als denen, die entflogen sind. Denn Gold bleibt wegen seiner Dichte in der Mitte der Pfanne; es besitzt bei gegebener Ausdehnung mehr Materie (was immer das heißt) als alles andere.
    Die Menschenmenge in Charing Cross, das geräuschlos auf den Nacken von Charles I. herabsausende Schwert: Das ist sein erstes Nugget. Dann kommt erst ein paar Monate später wieder etwas, als die Waterhouses zusammen mit den Bolstroods, alten Freunden der Familie, so etwas wie einen Urlaub machten, um eine Kathedrale zu demolieren.
    Nugget: als Silhouette vor dem Rosettenfenster einer Kathedrale eine gekrümmte, schwarze Gespenstergestalt, schwerfällig, die beiden Arme ein Pendel, an dem der abgetrennte Marmorkopf eines Heiligen schwingt. Das war Drake Waterhouse, Daniels Vater, um die sechzig Jahre alt.
    Nugget: der Steinkopf im Flug, mit einem erstaunten Blick zu Drake zurückgewandt. Das prächtige Gefüge des Fensters einwärts gezogen wie die Haut auf einem Kessel Suppe, wenn man einen Löffel hindurchstößt – das Glas berstend, die transzendente Vision des Fensters in einen Ausschnitt einer schlichten, blaugrünen englischen Hügellandschaft unter einem silbernen Himmel verwandelt. Das war der englische Bürgerkrieg.
    Nugget: ein kleiner, aber stämmiger Mann, der damit fertig ist, den vergoldeten Zaun, den Erzbischof Laud um den Altar hatte bauen lassen, zu zertrümmern und nun seinen Fäustel fallen lässt und am Tische des Herrn einen epileptischen Anfall erleidet. Das war Gregory Bolstrood, damals um die fünfzig Jahre alt. Er war Prediger. Er bezeichnete sich selbst als Unabhängigen. Seine Neigung, Anfälle zu bekommen, hatte zu Gerüchten geführt, er belle während seiner dreistündigen Predigten wie ein Hund, und so wurde die Sekte, die er begründet und die Drake finanziell unterstützt hatte, unter dem Namen Barkers – die Beller – bekannt.
    Nugget: ein jüngerer Barker, der mit einer Eisenstange die Orgel der Kathedrale zertrümmert – stattliche Pfeifen wie Bäume gefällt, polierte Buchsbaumholztasten über den Marmorboden schlitternd. Das war Knott Bolstrood, Gregorys Sohn, in seinen besten Jahren.
     
    Aber das alles entstammt seiner frühen Kindheit, ehe er zu lesen und zu denken gelernt hatte. Danach war sein junges Leben wohl geordnet und (wie er rückblickend voller Überraschung feststellt) interessant verlaufen. Ja sogar abenteuerlich.

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