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Quicksilver

Quicksilver

Titel: Quicksilver Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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klassischem Mumpitz bedurfte.
    Nun war ich damals viel zu jung, um an irgendwelche Winkelzüge auch nur zu denken. Selbst wenn ich es geübt hätte, den Schlaumeier zu spielen, hätte ich es mir zweimal überlegt, es ausgerechnet in diesem Raum zu tun. Also sagte ich Wilkins schlicht die Wahrheit: Ich hatte kein Interesse an Religion, zumindest nicht als Beruf, und wollte nur Naturphilosoph wie Boyle oder Huygens sein. Aber das hatte Wilkins natürlich schon erkannt. ›Überlass das ruhig mir‹, sagte er und zwinkerte mir zu.
    Drake wollte nichts davon wissen, dass ich aufs Gresham’s ging, also schrieb ich mich zwei Jahre später am Trinity College, dieser alten Vikarsschmiede, ein. Vater glaubte, das geschehe in Erfüllung der Pläne, die er für mich hatte. Wilkins hatte sich unterdessen selbst einen Plan für mein Leben ausgedacht. Ihr seht also, Enoch, ich bin durchaus daran gewöhnt, dass andere verrückte Pläne ersinnen, wie ich zu leben habe. Deswegen bin ich nach Massachusetts gekommen, und deswegen habe ich auch nicht die Absicht, von hier wegzugehen.«
    »Eure Absichten sind Eure Sache. Ich bitte Euch lediglich, den Brief zu lesen«, sagt Enoch.
    »Welchem plötzlichen Ereignis haben wir es zu verdanken, dass Ihr hierher geschickt wurdet, Enoch? Einem Zerwürfnis zwischen Sir Isaac und einem jungen Protegé?«
    »Erstaunlich gut geraten!«
    »Es ist ebenso wenig geraten wie Halleys Voraussagen von der Wiederkehr des Kometen. Newton unterliegt seinen eigenen Gesetzen. Er arbeitet seit einiger Zeit an der zweiten Auflage der Principia, und zwar mit diesem jungen Burschen, wie heißt er doch gleich...«
    »Roger Cotes.«
    »Viel versprechender junger Bursche mit frischem Gesicht, nicht wahr?«
    »Mit frischem Gesicht zweifellos«, sagt Enoch, »und viel versprechend, bis...«
    »Bis er sich irgendeine Verfehlung zuschulden kommen ließ und Sir Isaac einen Wutanfall bekam und ihn in den Feuersee schleuderte.«
    »Offensichtlich. Und nun ist alles, woran Cotes gearbeitet hat – die Revision der Principia Mathematica und eine wie immer geartete Versöhnung mit Leibniz – zunichte gemacht oder jedenfalls zum Stillstand gekommen.«
    »Mich hat Isaac nie in den Feuersee geworfen«, sinniert Daniel. »Ich war so jung und so offenkundig unschuldig – von mir konnte er, anders als von jedem anderen, nie das Schlimmste denken.«
    »Danke, dass Ihr mich daran erinnert habt! Bitte.« Enoch schiebt den Brief über den Tisch.
    Daniel erbricht das Siegel und klappt ihn auseinander. Er fischt eine Brille aus einer Tasche und hält sie sich mit einer Hand vors Gesicht, als ginge er, wenn er sie richtig aufsetzte und sich die Bügel über die Ohren schöbe, so etwas wie eine bindende Verpflichtung ein. Zunächst hält er den Brief mit ausgestrecktem Arm von sich weg, um ihn als kalligraphisches Kunstwerk zu betrachten und seine anmutigen Schwünge und Schnörkel zu bewundern. »Gott sei Dank ist er nicht in dieser barbarischen deutschen Schrift geschrieben«, sagt er. Schließlich beugt er den Ellbogen und macht sich daran, ihn tatsächlich zu lesen.
    Als er sich dem Fuß der ersten Seite nähert, geht mit seinem Gesicht eine Verwandlung vor.
    »Wie Ihr wahrscheinlich bemerkt habt«, sagt Enoch, »hat die Prinzessin, im vollen Bewusstsein der Gefahren einer transatlantischen Reise, für eine Versicherungspolice gesorgt...«
    »Ein posthumes Bestechungsgeld!«, sagt Daniel. »Heutzutage ist die Royal Society mit Aktuaren und Statistikern verseucht. Ihr müsst die Zahlen durchgespielt und berechnet haben, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass ein Mann meines Alters eine Reise über den Atlantik, Monate oder gar Jahre in dieser pestilenzialischen Metropole und die Rückreise nach Boston überlebt.«
    »Daniel! Wir haben ganz bestimmt keine Zahlen durchgespielt. Es ist nur vernünftig, dass die Prinzessin Euch versichert.«
    »Zu diesem Betrag? Das ist eine Pension – eine Erbschaft – für meine Frau und meinen Sohn.«
    »Habt Ihr denn jetzt eine Pension, Daniel?«
    »Was!? Verglichen damit, habe ich gar nichts.« Er lässt zornig einen Fingernagel gegen eine Kolonne von Nullen im Herzen des Briefes schnellen.
    »Dann scheint es, als argumentiere Ihre Königliche Hoheit durchaus überzeugend.«
    Waterhouse ist in ebendiesem Moment bewusst geworden, dass er in Kürze an Bord eines Schiffes gehen und nach London fahren wird. So viel lässt sich an seinem Gesicht ablesen. Aber er ist noch ein, zwei Stunden davon

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