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Quicksilver

Quicksilver

Titel: Quicksilver Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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Backstein, mit weiß abgesetzten Kanten und geteertem Sockel. Jack staunte wie ein Bauer über den Anblick von Scheunentoren im fünften Stock eines Gebäudes, die sich jäh abfallend auf einen Kanal öffneten. Darüber ragte ein einzelner Balken, der zum Hochziehen von Lasten diente, in die Luft. Im Gegensatz zu den Leipziger Häusern mit Lagerraum nur unter dem Dach waren diese hier zu nichts anderem gedacht.
    Die reichste dieser Lagerhausstraßen war die Warmoesstraat, und als sie sie überquert hatten, befanden sie sich auf einem lang gestreckten Platz, dem Damplatz, der, soweit Jack es erkennen konnte, der ursprüngliche Damm war, den man einfach gepflastert hatte. Hier gab es Männer in Turbanen und fremdländischen Pelzhüten und in Satin gekleidete Kavaliere, die ihre federgeschmückten Chapeaus abstreiften, um sich voreinander zu verneigen, und riesige Gebäude und andere Attraktionen, die Jack einen ganzen Nachmittag lang hätte angaffen können. Doch bevor er überhaupt damit anfangen konnte, lenkte irgendein Phänomen von der Größenordnung eines Krieges, einer Feuersbrunst oder einer biblischen Sintflut seine Aufmerksamkeit gen Norden. Er hielt das Gesicht in eine feuchtkalte Brise, sah unter sich den gesamten Verlauf eines kurzen, breiten Kanals und entdeckte eine niedrig hängende braune Wolke, die den Horizont verdunkelte. Vielleicht war es die Rauchglocke eines Feuers, das so groß war wie das, das London zerstört hatte. Nein, es war ein Wald mit viel Unterholz, ein sich über mehrere Meilen erstreckendes blattloses Dickicht. Oder vielleicht auch eine anstürmende Armee, hundertmal so groß wie die der Türken, und alle waren mit baumlangen Piken bewaffnet und schwenkten Fahnen und Wimpel.
    Schließlich musste Jack mehrere Minuten lang hinschauen, um sich dann der Vorstellung anheim zu geben, er sähe sämtliche Schiffe der Welt auf einmal – ihre einzelnen Masten, Taue und Spieren verschmolzen zu einem Horizont, durch den ein paar Kirchen und Windmühlen jenseits davon als dunkle Schatten zu erkennen waren. Schiffe, die vom Ijsselmeer auf der anderen Seite kamen oder dorthin abfuhren, feuerten hallende Salutschüsse ab, auf die holländische Küstenbatterien antworteten, wobei sie dichte Rauchwolken produzierten, die um die Takelage all dieser Schiffe herumhingen und sie scheinbar, so wie Lehm, der in ein Flechtwerk gestrichen wird, alle zu einem einzigen Gebilde zusammenfügten. Die Wellen des Meeres waren als sich langsam verbreitende Nachrichten sichtbar.
    Nachdem Jack ein paar Stunden Zeit gehabt hatte, sich an die Merkwürdigkeit der Amsterdamer Gebäude zu gewöhnen, an seine Wasserstraßen, die aggressive Sauberkeit der Leute, ihre bellende Sprache und ihre Unfähigkeit, sich auf diese oder jene Kirche zu einigen, verstand er den Ort. All seine Quartiere und Stadtteile waren dieselben wie in jeder anderen Stadt. Die Messerschleifer mochten zwar angezogen sein wie Geistliche, schliffen die Messer aber genauso wie ihre Kollegen in Paris. Selbst das Hafengebiet war nur eine erstaunlich vergrößerte Ausgabe der Themse.
    Doch dann kamen sie in ein Viertel, wie Jack noch nirgendwo eins gesehen hatte – beziehungsweise das Viertel kam zu ihnen, denn es war eine umherstreifende Bande. Während der größte Teil von Amsterdam wie allgemein üblich zwischen Reicheren und Ärmeren aufgeteilt war, war dieses Viertel auf unbestimmte Weise vermischt, was der Landstreicher Jack nicht weniger schockierend fand, als ein französischer Edelmann es getan hätte. Als das Viertel Jack und Eliza die Straße herauf entgegenkam, konnte er schon aus einiger Entfernung sehen, dass die Stimmung zum Zerreißen gespannt war. Es hatte etwas von einem Pöbelhaufen, der sich vor Palasttoren zusammengerottet hat und Nachrichten vom Tod eines Königs erwartet. Doch wie Jack deutlich sehen konnte, nachdem das Viertel um sie herumgeschwappt war und sie mit sich gerissen hatte, gab es dort keine Palasttore noch sonst etwas Derartiges.
    Es wäre nur eine vorübergehende Laune der Schöpfung gewesen, wie ein Komet, hätte Eliza nicht Jacks Hand gepackt und ihn weitergezogen, sodass sie für eine halbe Stunde zu einem Teil dieses Pulks wurden, der sich, hier und da anstoßend, zwischen den Amsterdamer Gebäuden dahinwälzte, einem Tropfen Quecksilber gleich, der sich seinen Weg durch ein hölzernes Labyrinth erfühlte. Jack merkte, dass sie Nachrichten erwarteten, nicht von einer außerhalb liegenden Quelle, sondern von innen

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