Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Quicksilver

Quicksilver

Titel: Quicksilver Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
Vom Netzwerk:
geflügelte Siegesgöttin Brotlaibe an die Armen, und auf der anderen war ein Engel mit einem Flammenschwert und einem mit drei Lilien geschmückten Schild zu sehen, wie er gerade, unterstützt von einer Heiligen Jungfrau, die das Kreuz schwang und den Kelch mit der Oblate drohend vor sich hielt, verschiedene fast reptilienartige Dämonen angriff und niederwarf, worauf diese rückwärts auf einen Haufen von Büchern purzelten, die Namen trugen (obgleich Jack nicht lesen konnte, wusste er das) wie M. Luther, J. Wycliffe, Jan Hus, Johannes Calvin.
    Der Himmel riss auf. Jack spürte, dass er in der Nähe der Seine war, stürzte los und erreichte schließlich den Pont-Neuf. »Pont« war das französische Wort für eine künstliche Landenge aus Stein, die einen Fluss überspannte, mit Bögen darunter, durch die das Wasser fließen konnte – Pylone standen in der Strömung und teilten sie mit ihren scharfen Klingen; obendrauf eine gepflasterte und, wie jede andere in Paris, von Gebäuden gesäumte Straße, sodass man nicht wüsste, dass man einen Fluss überquerte, wenn ein Pariser es einem nicht sagte. Doch gerade in dieser Hinsicht war der Pont-Neuf anders: Er trug keine Gebäude, nur Hunderte von geschnitzten Köpfen heidnischer Götter und Göttinnen, und so konnte man von hier aus richtig sehen . Jack machte sich auf und sah . Viele andere hatten dieselbe Idee. Stromaufwärts ließ das spätnachmittägliche Sonnenlicht die Rückseiten der Gebäude auf dem Pont au Change erglühen; ein stetiger Regen von Scheiße ergoss sich aus den Fenstern und wurde von der Seine geschluckt. An den unbefestigten Flussufern wimmelte es ständig von kleinen Booten und Barken. Neu Ankommende zogen eine rasch anwachsende Traube von Männern an, die hofften, als Träger angestellt zu werden. Manche Boote hatten Steinblöcke geladen, die irgendwo stromaufwärts von Angehörigen der Steinmetzgilde unter freiem Himmel in Form gehauen worden waren. Diese Boote legten an besonderen Kais an: Diese waren mit Kränen ausgestattet, deren Antrieb aus jeweils zwei großen Laufrädern bestand, in denen Männer unablässig kletterten, ohne je nach oben zu gelangen. Das Räderwerk, das dadurch gedreht wurde, holte ein Tau ein, das über eine Rolle am Ende eines baumlangen Arms lief und die Blöcke aus den Booten hievte. Der Kran – Räder, Männer und alles – konnte als Ganzes gedreht und der Block auf einen schweren Karren heruntergelassen werden.
    Woanders hätte derselbe Arbeitsaufwand vielleicht ein Fässchen Butter oder den Wochenbedarf an Brennholz zum Ergebnis gehabt; hier diente er dazu, einen Steinblock ein paar Fuß hochzuhieven, damit er in die Innenstadt gekarrt und dort von anderen Arbeitern wiederum hochgehievt werden konnte, höher und höher, um den Parisern Zimmer zu ermöglichen, die höher waren als breit, und Fenster, die über den Wipfeln der Bäume lagen, auf die sie dadurch schauen konnten. Paris war eine Stadt aus Stein, knochenfarben, hübsch und hart – man konnte sich dagegenwerfen und hinterließ nicht die geringste Spur. Soweit Jack das beurteilten konnte, war sie auf dem Prinzip erbaut, dass es nichts gab, was man nicht erreichen konnte, wenn man nur Abermillionen von Bauern auf dem besten Land der Welt zusammenpferchte und jahrtausendelang nicht davon abließ, sie ihres Verstandes zu berauben. Zu seiner Linken lag, wenn er stromaufwärts blickte, voll gestopft und dräuend mit gewichtigen Bauwerken, die Île de la Cité: die quadratischen Zwillingstürme von Notre Dame und die runden Zwillingstürme der Conciergerie, die gleichermaßen Rettung und Verdammung verhießen, so wie ein Scharlatan, der ihn aufforderte eine Karte, irgendeine Karte, zu ziehen. Dann war da noch der Palais de Justice, ein weißes Steinungeheuer mit Adlerskulpturen, die aussahen, als wollten sie jeden Moment herabstoßen.
    Ein Hund rannte die Brücke hinunter und versuchte, einem Stück Kette zu entkommen, das jemand an seinen Schwanz gebunden hatte. Jack schlenderte auf die andere Seite des Flusses, wobei er zahllose Quacksalber, Bettler und Prostituierte abschüttelte. Als er sich umdrehte, hatte er freie Sicht stromabwärts und über den Fluss hinweg auf den Louvre, wo der König vor der Vollendung von Versailles gelebt hatte. Im Garten der Tuilerien, auf den jetzt der lange Schatten der westlichen Stadtmauer fiel, wurden in schnurgeraden Reihen gepflanzte Bäume von den königlichen Gärtnern für jede Abweichung von der korrekten Form

Weitere Kostenlose Bücher