Quicksilver
Matrosenhängematte hing von einer Ecke dieses »Halbgeschosses« zur anderen. Mehrere Backsteine waren zu einer Fläche zusammengeschoben worden, auf der man ein Feuer machen konnte. Auf dem Ziegeldach unterhalb des Entresol ließ ein Schleier aus braunen Streifen erkennen, wo die vorherigen Bewohner ihr Scheißen und Pissen erledigt hatten.
Jack schwang sich in die Hängematte und entdeckte, dass frühere Mieter so rücksichtsvoll gewesen waren, mehrere Gucklöcher durch die angrenzenden Mauern zu bohren. Im Winter war das sicher eine zugiges Loch, aber Jack gefiel es hier: In verschiedenen Richtungen boten sich ihm über Dachfirste hinweg unverstellte Ausblicke und offene Fluchtwege. Das Gebäude auf der anderen Straßenseite hatte eine Mansarde, von Jacks Entresol nicht weiter entfernt als ein Raum innerhalb eines Hauses von einem anderen, allerdings durch eine sechzig oder siebzig Fuß tiefe Kluft von ihm getrennt. Diese Art von Unterkunft entsprach durchaus Jacks Erwartungen (obwohl er gleichsam hören konnte, wie St-George ihm sagte, dass er sich, nun da er ein wohlhabender Mann sei, höhere Ziele stecken müsse). So konnte er Gespräche mit anhören und das Essen und die Körper der Leute auf der gegenüberliegenden Straßenseite riechen. Doch wenn er so in seiner Hängematte lag, ging er dazu über, sie zu beobachten, als wäre ihr Leben ein Theaterstück und er ein Zuschauer. Das hier war anscheinend die übliche Art von Höhenschlupfloch für Prostituierte auf der Flucht vor ihren Zuhältern, davongelaufene Dienstboten, außerehelich schwanger gewordene Frauen und junge Bauern, die in der Erwartung nach Paris gekommen waren, hier irgendetwas zu finden.
Jack versuchte, ein Nickerchen zu machen, aber es war helllichter Nachmittag und bei dem ganzen Pariser Trubel um ihn herum konnte er nicht einschlafen. Deshalb zog er über die Dächer los, merkte sich die Stellen, an denen er abbiegen oder springen, die Mauerritzen, in denen er sich verstecken, und die Orte, an denen er stehen und kämpfen würde, wenn der Generalleutnant der Polizei ihn je holen käme. Das führte dazu, dass er über zahlreiche Dachfirste hüpfte und damit große Unruhe und Panik unter vielen Mansardenbewohnern auslöste, die in ständiger Angst vor Polizeirazzien lebten. Meistens hatte er die Dächer für sich allein. Außer ihm gab es noch ein paar nach Landstreichern aussehende Kinder, die in Banden umherstreiften, und Unmengen von Dachratten. Auf fast jedem Häuserblock lagen abgewetzte Seile oder dünne Äste als Brücken hoch oben über den Straßen, nicht stark genug für Menschen, aber eifrig von Ratten frequentiert. An anderen Stellen lagen die Seile ordentlich aufgerollt auf Dächern und die Stöcke in Regenrinnen. Jack nahm an, dass sie von St-George hierher gelegt worden waren, damit er die Wanderungen von Ratten lenken und kontrollieren konnte, so wie ein General in einem Teil eines umkämpften Gebietes Brücken abriss, während er in einem anderen behelfsmäßig neue baute.
Schließlich kam Jack wieder auf die Straße hinunter und stellte fest, dass er in einem besseren Viertel in der Nähe des Flusses gelandet war. Ohne darüber nachzudenken, strebte er seinem alten Tummelplatz, dem Pont-Neuf, zu. Die Straße war ein günstigerer Aufenthaltsort für ihn – Leute, die auf Dächern herumkletterten, hatten keinen guten Ruf -, aber sie war dunkel und zwischen den Steinmauern der Gebäude eingezwängt. Selbst der Blick die Straße hinunter war versperrt durch Balkone, die von beiden Seiten bis über die Hälfte in die Straße hinein ragten. Die Häuser hatten alle gewölbte Eingänge, die durch eisenbeschlagene Festungstore verschlossen waren. Manchmal hielt ein Dienstbote sie zufällig in dem Augenblick auf, als Jack vorbeiging. Dann verlangsamte er seinen Schritt, schaute hinein und erhaschte einen Blick durch einen kühlen, schattigen Flur in einen sonnenbeschienenen Hof, der zur Hälfte mit Kaskaden von Blumen ausgefüllt war und aus gurgelnden Fontänen bewässert wurde. Dann ging die Tür wieder zu. Für Jack und die meisten anderen war Paris damals ein Netz aus tiefen Gräben mit senkrechten Mauern und ein paar zugigen Zinnen oben auf den Mauern – ansonsten der Welt größte Sammlung von geschlossenen und verriegelten Türen.
Er ging an einem Standbild von König Louie als römischem General vorbei, der in stilvoller klassischer Rüstung mit entblößtem Nabel posierte. Auf einer Seite des Sockels verteilte die
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