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Quicksilver

Quicksilver

Titel: Quicksilver Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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unhöflich zu starren, aber sie konnte nicht anders. So bemerkte sie, dass der junge Arcachon ein Bein über das Geländer geschwungen hatte, als versuchte er gerade, ins Leere hinauszuspringen. Auf demselben Geländer saß bedenklich schwankend eine große und ziemlich gute Perücke. Eliza trat vor und packte sie. Das war unverkennbar die Perücke von Jean Antoine de Mesmes, Comte d’Avaux, der folglich der Glatzkopf sein musste, der mit dem jungen Arcachon rang, um ihn von der Schwelle des Selbstmords zurückzuholen.
    Schließlich drückte d’Avaux, der für einen so vornehmen Mann eine unheimliche Kraft unter Beweis stellte, den anderen in einen Sessel zurück und besaß den Anstand, das Ganze so hinzudrehen, dass er selbst am Ende vor ihm zu knien kam. Er zog ein Spitzentüchlein aus der Tasche und stopfte es sich unter die Nase, um den Blutfluss zu stoppen; durch es hindurch sprach er dann erregt, aber respektvoll mit dem jungen Adligen, der sein Gesicht in den Händen verbarg. Hin und wieder warf er Eliza einen Blick zu.
    »Hat der junge Arcachon V.O.C.-Aktien leer verkauft?«, fragte sie Mr. Sluys.
    »Ganz im Gegenteil, Mademoiselle -«
    »Ach, ich vergaß. Er gehört nicht zu denen, die sich an der Börse versuchen. Aber welchen anderen Grund sollte der Sohn eines französischen Herzogs haben, nach Amsterdam zu kommen?«
    Sluys bekam einen Gesichtsausdruck, als stecke ihm etwas in der Kehle.
    »Lasst nur«, sagte Eliza leichthin, »es ist sicher schrecklich kompliziert – und ich verstehe ja gar nichts von diesen Dingen.«
    Sluys entspannte sich.
    »Ich habe mich nur gefragt, warum er sich umzubringen versuchte – vorausgesetzt, dass er das wirklich tat.«
    »Étienne d’Arcachon ist der höflichste Mann in Frankreich«, sagte Sluys in Unheil verkündendem Ton.
    »Pah. Das kann man nie wissen!«
    »Schsch!« Sluys machte hektische kleine Bewegungen mit den fleischigen Schaufeln, die seine Hände waren.
    »Mr. Sluys! Wollt Ihr damit sagen, dass dieses Schauspiel mit meiner Anwesenheit in Eurer Loge zu tun hat?«
    Schließlich war Sluys auf den Füßen. Er war ziemlich betrunken und sehr schwer und stand vornübergebeugt mit einer Hand am Geländer der Loge. »Es wäre hilfreich, wenn Ihr mir anvertrautet, dass Ihr Anstoß nähmt, wenn Étienne d’Arcachon sich in Eurer Gegenwart umbrächte.«
    »Ihn Selbstmord begehen zu sehen, würde meinen Abend ruinieren, Mr. Sluys!«
    »Sehr gut. Ich danke Euch, Mademoiselle. Ich stehe tief in Eurer Schuld.«
    »Ihr habt überhaupt keine Vorstellung, Mr. Sluys.«
     
    Das führte zu stillen Machenschaften in düsteren Ecken, Botschaften hinter vorgehaltener Hand, hochgezogenen Augenbrauen und unmerklichen Bewegungen im Kerzenlicht, die sich alle durch die letzten Akte der Oper zogen – glücklicherweise, denn die Oper war stinklangweilig.
    Dann schaffte d’Avaux es irgendwie, eine Kutsche zusammen mit Eliza und Monmouth zu bekommen. Während sie rüttelnd, schaukelnd und klappernd an mehreren dunklen Kanalrändern entlang und über verschiedene Zugbrücken fuhren, erklärte er: »Es war Sluys’ Loge. Deshalb war er der Gastgeber. Und deshalb war es seine Pflicht, Euch Étienne d’Arcachon in aller Form vorzustellen, Mademoiselle. Aber er war zu sehr Holländer, zu betrunken und zu abgelenkt, um seine Rolle auszufüllen. Ich habe mich noch nie so oft geräuspert – aber vergebens. Monsieur d’Arcachon befand sich in einer unmöglichen Situation!«
    »Deshalb hat er versucht, sich das Leben zu nehmen?«
    »Das war der einzige ehrenhafte Weg«, erwiderte d’Avaux nur.
    »Er ist der höflichste Mann in Frankreich«, fügte Monmouth hinzu.
    »Ihr wart die Rettung«, sagte d’Avaux.
    »Oh, das... das war Mr. Sluys’ Vorschlag.«
    D’Avaux sah schon bei der bloßen Erwähnung von Sluys’ Namen angewidert aus. »Er hat eine Menge auf dem Gewissen. Diese soirée täte gut daran, charmante zu sein.«
     
    Aaron de la Vega, der an diesem Abend ganz sicher nicht zu einer Gesellschaft ging, behandelte Bilanzaufstellungen und V.O.C.-Aktien so wie ein Gelehrter alte Bücher und Pergamentrollen – was bedeutet, dass Eliza ihn übertrieben nüchtern und ernst fand. Doch an ein paar Dingen konnte er auch sein Vergnügen haben, und eins davon war Mr. Sluys’ Haus – oder besser, seine wachsende Sammlung davon. Denn als das erste Haus die Nachbargebäude abwärtsgezogen, sie zu Parallelogrammen verdreht, Fensterscheiben aus ihren Rahmen gesprengt und Türen zwischen ihren

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