Quicksilver
strecken, um ihn wieder herbeizuholen, und die Ärmel meines Kleids aus zweiter Hand saugten sich mit Wasser voll. Die ganze Zeit war ich in Anspruch genommen vom Quengeln der beiden gelangweilten Kinder und außerdem von meinen eigenen heftigen Gemütsbewegungen – denn ich muss Euch sagen, dass die Tränen über meine sonnenverbrannten Wangen rannen, als ich mich an die vielen Lektionen erinnerte, die ich als junges Mädchen in Algier von meiner Mummy und den Damen von der Freiwilligenzunft der Gesellschaft britannischer Entführter bekam.
Irgendwann vernahm ich Stimmen – die eines Mannes und die einer Frau -, und ich wusste, dass sie sich eine ganze Zeit lang in der Nähe unterhalten hatten. Bei all diesen anderen Sorgen und Zerstreuungen hatte ich sie gar nicht zur Kenntnis genommen. Ich hob den Kopf, um unmittelbar jenseits des Kanals zwei Gestalten zu Pferde zu erblicken: einen großen, prächtigen, wohl gebauten Mann mit einer ausladenden Perücke, die einer Löwenmähne glich, und eine Frau, die ungefähr wie ein türkischer Ringer gebaut war, Jagdkleidung anhatte und eine kurze Reitpeitsche trug. Das Gesicht der Frau war der Sonne ausgesetzt, und das schon seit langem, denn sie war braun wie eine Satteltasche. Sie und ihr Begleiter hatten über etwas anderes gesprochen, doch als ich aufblickte, zog ich irgendwie die Beachtung des Mannes auf mich; im selben Augenblick fasste er sich an den Hut und lüftete ihn vor mir, von der anderen Seite des Kanals! Als er das tat, fiel die Sonne ihm direkt ins Gesicht, und ich erkannte in ihm König Ludwig XIV.
Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie ich mich von dieser Demütigung erholen sollte, und so gab ich vor, ihn gar nicht gesehen zu haben. Luftlinie waren wir nicht weit voneinander entfernt, aber zu Land schon – um mich zu erreichen, hätten der König und seine Diana-artige Jagdgenossin ein ganzes Stück am Kanalufer entlang nach Westen reiten müssen, dann um das große Becken an dem Ende herum und am gegenüberliegenden Ufer dieselbe Entfernung zurück nach Osten. Deshalb redete ich mir ein, dass sie weit weg waren, und tat so, als sähe ich sie nicht; möge Gott sich meiner erbarmen, wenn ich die falsche Entscheidung traf. Ich versuchte, meine Verlegenheit zu verbergen, indem ich vor den Kindern über Descartes und Euklid schwadronierte.
Der König setzte seinen Hut wieder auf und sagte: »Wer ist sie?«
Ich schloss die Augen und seufzte erleichtert; der König hatte beschlossen, das Spielchen mitzuspielen und verhielt sich, als hätten wir einander nicht gesehen. Schließlich hatte ich behutsam den Korken wieder in meine Hand treiben lassen. Ich richtete mich auf und setzte mich, meine Röcke um mich herum ausgebreitet, mit dem Profil zum König auf den Rand des Kanals und unterrichtete ganz ruhig die Kinder.
In der Zwischenzeit betete ich, dass die Frau meinen Namen nicht wusste. Doch wie Ihr erraten haben werdet, Doktor, war sie niemand anderes als die Schwägerin Seiner Majestät, Elisabeth Charlotte, für Versailles Madame, und für Sophie – ihre geliebte Tante – Liselotte.
Warum habt Ihr mir nicht gesagt, dass der Rauschenplattenknecht eine Tribadin ist? Das dürfte eigentlich kaum überraschen, angesichts der Tatsache, dass ihr Mann Philippe homosexuell ist, aber so ganz war ich doch nicht darauf gefasst. Hat sie Geliebte? Halt, ich bin vermessen; weiß sie überhaupt, was sie ist?
Sie betrachtete mich einen trägen Moment lang; in Versailles spricht niemand von Rang schnell oder spontan, jede Äußerung ist geplant wie ein Zug beim Schachspiel. Ich wusste, was sie jeden Augenblick sagen würde: »Ich kenne sie nicht.« Ich betete, sie möge es sagen, denn dann hätte der König gewusst, dass ich keine Person war, nicht existierte, seine Aufmerksamkeit nicht mehr verdiente als eine flüchtige kleine Welle auf der Wasseroberfläche des Kanals. Dann endlich hörte ich Madames Stimme über das Wasser: »Sie sieht aus wie dieses Mädchen, das von d’Avaux überlistet und von den Holländern belästigt wurde und das zerzaust und in der Erwartung von Mitleid hier auftauchte.«
Ich halte es für unwahrscheinlich, dass Liselotte mich ohne jede andere Informationsquelle so hätte erkennen können; habt Ihr ihr einen Brief geschrieben, Doktor? Mir ist nie klar, was Ihr alles auf eigene Faust tut und was als Schachfigur – oder sollte ich vielleicht sagen »Springer« oder »Turm« – von Sophie.
Diese grausamen Worte hätten mich in
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