Quicksilver
in seiner Höhle drehte – er hatte wohl einfach das Unterlid weit herabgezogen und dann zwischen diesem und dem Augapfel sondiert, bis er einen Weg hinein gefunden hatte. »Die Nadel ist stumpf – das Ganze ist völlig harmlos«, knurrte Isaac. »Wenn ich dich bitten dürfte, mir ein paar Minuten zu helfen?«
Nun war Daniel vorgeblich Student, der Vorlesungen besuchte und die Werke von Aristoteles und Euklid studierte. Tatsächlich aber war er im Lauf des vergangenen Jahrs das Einzige geworden, was Isaac Newton, von der Gnade Gottes abgesehen, am Leben erhielt. Er hatte es sich längst abgewöhnt, lästige und sinnlose Fragen zu stellen, wie etwa »Kannst du dich erinnern, wann du dir das letzte Mal etwas zu essen in den Mund gesteckt hast?« oder »Findest du nicht, dass ein, zwei Stunden Schlaf pro Nacht dir gut täten?« Das Einzige, was wirklich funktionierte, war, Isaac zu überwachen, bis er regelrecht auf dem Tisch zusammenbrach, ihn dann wie ein Grabräuber, der seine Beute fortschleppt, ins Bett zu befördern, dann selbst in der Nähe seinen Studien nachzugehen und ein Auge auf ihn zu haben, bis er das Bewusstsein zurückerlangte, und dann, solange er noch nicht wusste, welchen Tag man schrieb, und noch nicht begonnen hatte, einem neuen Gedankengang zu folgen, Milch und Brot in ihn hineinzustopfen, damit er nicht vollends verhungerte. Daniel tat dies alles freiwillig – er stellte seine eigene Ausbildung hintan und brachte Drakes Unterhaltszahlungen als Brandopfer dar -, weil er es für seine Christenpflicht hielt. Isaac, theoretisch noch immer sein Stipendiat, war zu seinem Herrn und Daniel zum aufmerksamen Diener geworden. Natürlich war sich Isaac der Bemühungen von Daniel überhaupt nicht bewusst – wodurch das Ganze nur zu einem noch vollkommeneren Beispiel christlicher Selbstverleugnung wurde. Daniel glich einem jener papistischen Fanatiker, bei denen man, wenn sie sterben, feststellt, dass sie unter ihren Samtkleidern heimlich ein härenes Hemd getragen haben.
»Das Schaubild verhilft dir vielleicht zu einem besseren Verständnis des heutigen Experiments«, sagte Isaac. Er hatte in seinem Sudelbuch einen Querschnitt von Augapfel, Hand und Stopfnadel gezeichnet. Seit den merkwürdigen Ereignissen am Pfingstsonntag des vergangenen Jahrs hatte er nichts gezeichnet, was einem Kunstwerk näher kam – seitdem waren nur Gleichungen aus seiner Feder geflossen.
»Darf ich fragen, warum du das tust?«
»Die Farbentheorie gehört zum Programm«, sagte Isaac – er bezog sich damit (wie Daniel wusste) auf eine Liste philosophischer Fragen, die er kürzlich in seinem Sudelbuch notiert hatte, und auf die Studien, denen er in der Hoffnung, sie beantworten zu können, ganz auf sich allein gestellt nachging. Von den beiden jungen Männern in diesem Raum – Newton mit seinem Programm und Waterhouse mit seiner gottgegebenen Verantwortung zu verhindern, dass der andere sich umbrachte – hatte seit über einem Jahr keiner mehr auch nur eine einzige Vorlesung besucht oder irgendeinen Kontakt zu Angehörigen des Lehrkörpers gehabt. Isaac fuhr fort: »Ich habe Boyles neueste Schrift gelesen – Experiments and Considerations Touching Colours - und dabei ist mir folgender Gedanke gekommen: Für alle seine Beobachtungen benutzt er seine Augen – seine Augen sind demzufolge Instrumente, wie Fernrohre – aber versteht er auch wirklich, wie diese Instrumente funktionieren? Ein Astronom, der seine Linsen nicht versteht, wäre wahrhaftig ein jämmerlicher Philosoph.«
Daniel hätte in diesem Moment alles Mögliche sagen können, heraus kam aber nur: »Wie kann ich dir helfen?« Und das hatte nichts mit säuselnder Speichelleckerei zu tun. Einen Moment lang blieb ihm die Spucke weg von der ungeheuren Anmaßung, die darin lag, dass ein bloßer Student, zwanzig Jahre alt und ohne akademischen Grad, die Fähigkeit des großen Boyle in Frage stellte, einfache Beobachtungen anzustellen. Im nächsten Augenblick aber kam Daniel zum ersten Mal der Gedanke: Und wenn Newton nun Recht hatte und alle anderen Unrecht? Das war schwer zu glauben. Andererseits wollte er es glauben, denn wenn es stimmte, dann wäre ihm mit den vielen versäumten Vorlesungen überhaupt nichts entgangen, und er bekäme, indem er als Newtons Diener fungierte, die beste Ausbildung in Naturphilosophie, die man sich nur wünschen konnte.
»Ich möchte, dass du ein Fadenkreuz auf ein Blatt Papier zeichnest und es dann in verschiedenen, abgemessenen
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