Quicksilver
weniger, als dass er hinschlägt und Glück dabei hat. Vom Ufer aus sieht es wahrscheinlich wie ein Sturz auf den Hintern aus, aber er weiß, dass dieser Moment der Unbeholfenheit aus der GESCHICHTE, die eines Tages in der Erinnerung der amerikanischen Waterhouses fortleben wird, herausredigiert werden wird. Die GESCHICHTE liegt in besten Händen. Mrs. Goose, die ein unheimliches Talent für dergleichen hat, ist mitgekommen, um sich die Sache anzusehen und einzuprägen, und auch Enoch bleibt da, teils um sich um die physischen Überreste des Massachusetts Bay Colony Instituts der Technologischen Wissenschaften zu kümmern, teils aber auch, um sich um die GESCHICHTE zu kümmern und dafür zu sorgen, dass sie zu Daniels Vorteil gestaltet und weitererzählt wird.
Daniel weint.
Die Geräusche seines Schniefens und Schluchzens übertönen fast alles andere, doch er wird einer leisen, fremdartigen Musik gewahr: Die Sklaven haben zu singen begonnen. Ein Ruderlied? Nein, das hätte einen schwerfälligen, von Jo-ho-ho untermalten Rhythmus, und das hier ist viel komplizierter, mit Taktschlägen an den falschen Stellen. Es muss eine afrikanische Melodie sein, denn es hört sich an, als hätten sie teilweise auch die Töne umgemodelt und sängen sie tiefer, als sie eigentlich klingen dürften. Dennoch ist das Ganze zugleich auf seltsame Weise irisch. An irischen Sklaven herrscht auf den Westindischen Inseln, wo diese Männer als Erstes unter die Knute kamen, kein Mangel, sodass es sich daraus erklären könnte. Es ist (musikwissenschaftliche Erklärungen einmal beiseite) ein durch und durch trauriges Lied, und Daniel weiß auch, warum: Indem er dieses Boot bestiegen hat und in Schluchzen ausgebrochen ist, hat er jeden dieser Afrikaner an den Tag erinnert, an dem er selbst in Ketten fortgeführt und vor der Küste von Guinea auf ein großes Schiff verladen wurde.
Binnen weniger Minuten sind die Kais von Boston ihrem Blick entzogen, doch sie sind immer noch von Land umgeben: den vielen Inselchen, Felsen und knochigen Tentakeln des Hafens von Boston. Ihre Fahrt wird beobachtet von toten, in rostigen Galgenkäfigen aufgehängten Männern. Piraten werden hingerichtet, weil sie auf hoher See gegen die Gesetze der Admiralität verstoßen haben, deren Gerichtsbarkeit sich nur bis zur Hochwassermarke erstreckt. Die unerbittliche Logik des Rechts schreibt daher vor, dass Piratengalgen an der Niedrigwassermarke errichtet werden und die Leichname der Hingerichteten dreimal von Ebbe und Flut überspült werden müssen, ehe man sie abschneidet. Natürlich ist der Tod allein zu milde für Piraten, deshalb sieht das Urteil normalerweise vor, dass sie in verschlossenen Eisenkäfigen aufgehängt werden, damit sie nicht abgeschnitten werden und ein christliches Begräbnis bekommen können.
In New England scheint es mindestens so viele Piraten wie ehrbare Seeleute zu geben. Doch wie auch sonst in vieler Hinsicht, hat es die Vorsehung in diesem Punkt gut mit Massachusetts gemeint, denn im Hafen von Boston gibt es unzählige kleine Inseln, die von der Flut überspült werden, sodass zwecks Hinrichtung und Aufhängen von Piraten reichlich Immobilien zur Verfügung stehen. Sie werden fast alle genutzt. Tagsüber verdecken Wolken hungriger Vögel die Galgenkäfige. Aber es ist mitten in der Nacht, die Vögel sind in Boston und Charlestown und schlafen in ihren Nestern aus geflochtenem Piratenhaar. Es ist Flut, die Riffe stehen unter Wasser, die Galgen erheben sich direkt aus den Wellen. Und so sehen, während die singenden Sklaven Daniel zu seiner, wie er annimmt, letzten Reise hinausrudern, Hunderte von vertrockneten und skelettierten Piraten, die über der in Mondlicht getauchten See in der Luft hängen, als zeremonielle Ehrenwache seiner Vorbeifahrt zu.
Es braucht mehr als eine Stunde, um die Minerva einzuholen, die gerade über die Untiefen von Spectacle Island hinwegmanövriert. Ihr Rumpf ist fassförmig und wölbt sich über ihnen. Eine Lotsenleiter wird herabgelassen. Der Aufstieg ist nicht einfach. Die allgemeine Schwerkraft ist nicht sein einziger Widersacher. Vom Atlantik her stehlen sich steigende Wellen heran, die ihn an den Rumpf schlagen lassen. Zudem macht ihn rasend, dass die Kletterei ihn an allerlei puritanische Lehren erinnert, die zu vergessen er sich alle Mühe gegeben hat – die Leiter wird zur Jakobsleiter, das mit schwitzenden Sklaven besetzte Boot zur Erde, das Schiff zum Himmel, die Seeleute in der in Mondlicht getauchten
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