Quicksilver
.«
»Das heißt also, wie die Schwerkraft im Innersten funktioniert, entzieht sich selbst in Ansätzen dem Verständnis der Naturphilosophie. An wen sollen wir uns denn dann wenden? Metaphysiker? Theologen? Zauberer?«
»Für mich ist das alles eins«, sagte Isaac, »und ich bin das alles.«
Strand nördlich von Scheveningen
OKTOBER 1685
Es war, als hätte Wilhelm von Oranien überall auf der Welt nach dem Ort gesucht, der sich am meisten von Versailles unterschied, und Eliza befohlen, sich dort mit ihm zu treffen. In Versailles war alles von Menschen erdacht und gebaut worden. Aber hier gab es nichts anderes zu sehen als Meer und Sand. Jedes Sandkörnchen war von Wellen, die sich nach verborgenen, womöglich für den Doktor, nicht aber für Eliza durchschaubaren Gesetzen im Meer auftürmten, dorthin gebracht worden, wo es jetzt lag.
Sie war abgestiegen und führte ihr Pferd jetzt am Strand entlang nach Norden. Der Sand war festgebacken und hart und feucht und über und über mit Muschelschalen von einem so großen Farbenund Formenreichtum gesprenkelt, dass sie die ersten Holländer auf die Idee gebracht haben mussten, aufs Meer hinauszufahren und mit kostbaren Dingen aus der Ferne zurückzukommen. Sie bildeten einen willkommenen Gegensatz zu der extremen Flachheit und Gleichförmigkeit von Strand, Wasser und dunstigem Himmel und übten eine hypnotische Wirkung auf sie aus. Sie zwang sich, von Zeit zu Zeit aufzublicken. Doch das Einzige, was sich an dem Bild vor ihr immer wieder änderte, waren die Unterschriften aus Schaum, die die Wellen am Strand zurückließen.
Jeder Brecher, stellte sie sich vor, war so einzigartig wie eine menschliche Seele. Jeder stürmte für sich den Strand hinauf, anfangs noch der Inbegriff von Kraft und Vitalität. Doch jeder wurde langsamer, dünnte aus, zögerte, löste sich zu einem zischenden Band aus grauem Schaum auf und wurde unter dem nächsten begraben. Das Endergebnis ihrer ganzen lärmenden, stampfenden, sich ständig wiederholenden Anstrengungen war der Strand. Durch ein Brennglas betrachtet war die besondere Anordnung von Sandkörnern, die den Strand ausmachte, vermutlich kompliziert und spiegelte den individuellen Beitrag einer jeden Welle wider, die hier ihr Leben beendet hatte; von der Ebene von Elizas Kopf aus betrachtet war sie unbeschreiblich flach, ein »Gräuel der Verzweiflung an einem finsteren Ort«, wie die Bibel es formulieren würde.
Hinter sich hörte sie ein reißendes Geräusch und wandte sich nach Süden um, zu der mehrere Meilen entfernten Ausbuchtung im Strand, die den Hafen von Scheveningen bildete. Als sie sich vor wenigen Minuten zum letzten Mal umgeschaut hatte, hatte sie zwischen sich und dem Ankerplatz nur ein paar Muschelsucher gesehen. Jetzt aber gab es auf dem Sand ein Segel: ein Dreieck aus Segeltuch, vom feuchten Seewind so straff gespannt wie das Fell einer Trommel. Darunter schwebte ein spinnenartiges Gestänge aus Baumstämmen mit Speichenrädern an ihren Enden. Ein Rad wurde durch die Krängung des Gefährts in der Luft gehalten. Zusammen mit der Geschwindigkeit, mit der es sich über den Strand fortbewegte, vermittelte das den Eindruck, es flöge. Das Rad drehte sich langsam in der Luft und ließ dabei Klümpchen nassen Sandes von seinem Rand fallen, der sehr breit war, sodass es nicht in den Sand und sein fröhliches Mosaik aus Muschelschalen hineinschnitt, sondern darüber hinwegrollte. Das gegenüberliegende Rad zeichnete, während es im Slalom zwischen den kauernden Gestalten der Muschelsammler hindurchfuhr, eine lange dicke Spur über den Strand; hundert Ellen hinter ihm war diese Spur allerdings schon von den Wellen verwischt.
Ein Fischerboot hatte sich, als das Wasser zurückging, sacht an die Küste manövriert, seine Seitenbretter hochgezogen und sich auf den Strand treiben lassen. Die Fischer hatten es mit Holzbalken in aufrechter Position verkeilt, dann ihren Fang aus dem Laderaum heraufgebracht, auf dem Sand ausgebreitet und auf diese Weise einen kleinen Fischmarkt eröffnet, der so lange dauern würde, bis das Wasser von neuem stieg, die Kunden vertrieb und das Schiff wieder flottmachte. Die Leute hatten Körbe aus der Stadt hergetragen oder waren in Kutschen vorgefahren, um sich mit den Fischern über den Preis für das zu streiten, was sie aus der Tiefe heraufgeholt hatten.
Manche von ihnen drehten sich nach dem Sandsegler um. Schneller als ein Pferd galoppieren konnte, raste er an Eliza vorbei. Sie erkannte den
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