Quicksilver
Scheibe der aufgehenden Sonne säuberlich in Sektoren.
College of the Holy and Undivided Trinity, Cambridge
1664
Im großen Hof des Trinity gab es eine Sonnenuhr, die Isaac nicht mochte: eine flache, von beschrifteten Speichen unterteilte Scheibe mit einem schräg nach oben weisenden Gnomon in der Mitte, eine naive Kopie römischer Vorbilder, die eine gewisse klassische Eleganz besaß und ständig falsch ging. Newton war dabei, eine Sonnenuhr an einer Südwand zu konstruieren, wobei er als Gnomon eine dünne Stange mit einer Kugel am Ende verwendete. An jedem sonnigen Tag beschrieb der Schatten der Kugel eine Kurve auf der Wand – jeden Tag eine geringfügig andere, da sich die Neigung der Erdachse im Laufe der Jahreszeiten langsam änderte. Dieses Kurvenbündel ergab eine schöne Anzahl astronomischer Daten, aber noch keinen brauchbaren Zeitmesser. Um die Zeit angeben zu können, musste Isaac (oder sein getreuer Gehilfe Daniel Waterhouse) jeweils ein kleines Kreuzchen an der Stelle machen, wo der Schatten des Gnomons stand, wenn die Glocke von Trinity (stets leicht zeitversetzt zu der des King’s College) die Stunden des Tages schlug. Theoretisch wäre jede dieser Kurven nach 365 Wiederholungen dieser Prozedur mit einem Kreuzchen für acht Uhr, neun Uhr usw. versehen. Indem er diese Kreuzchen dergestalt miteinander verband, dass jeweils eine Kurve durch sämtliche Acht-Uhr-Kreuzchen, sämtliche Neun-Uhr-Kreuzchen usw. verlief, erzeugte Isaac eine zweite Familie von Kurven, die ungefähr parallel zueinander und ungefähr senkrecht zu den Tageskurven verliefen.
Eines Abends, die Prozedur war ungefähr zweihundert Tage und über tausend Kreuzchen weit gediehen, fragte Daniel seinen Zimmergenossen, warum er Sonnenuhren so interessant finde. Isaac sprang auf, floh aus dem Zimmer und rannte in Richtung der Backs davon. Daniel ließ ihn ein paar Stunden zufrieden, dann ging er ihn suchen. Gegen zwei Uhr morgens fand er ihn schließlich mitten auf dem Jesus Green stehen, wo er in die Betrachtung seines langen Schattens im Vollmondlicht versunken war.
»Es war eine ehrliche Bitte um Auskunft – nichts weiter – ich möchte, dass du mir mitteilst, was es mit Sonnenuhren auf sich hat, das interessant zu finden ich zu dumm bin.«
Das schien Isaac zu besänftigen, obwohl er sich nicht dafür entschuldigte, dass er das Schlimmste von Daniel gedacht hatte. Er sagte ungefähr so etwas wie: »Das himmlische Leuchten erfüllt den Äther, seine Strahlen verlaufen parallel und gerade und sind, sofern durch nichts unterbrochen, unsichtbar. Diese Strahlen teilen die Geheimnisse von Gottes Schöpfung mit, freilich in einer Sprache, die wir nicht verstehen, ja nicht einmal hören – die Richtung, aus der sie scheinen, das im Licht verborgene Farbenspektrum, sie alle sind Zeichen in einem Kryptogramm. Der Gnomon – sieh dir unsere Schatten auf dem Grün an! Wir sind der Gnomon. Wir unterbrechen das Licht und werden davon gewärmt und beleuchtet. Indem wir das Licht aufhalten, vernichten wir einen Teil der Mitteilung, ohne sie zu verstehen.Wir werfen einen Schatten, ein Loch im Licht, einen Strahl Dunkelheit, der wie wir selbst geformt ist – mancher würde vielleicht sagen, er enthält keinerlei Information außer dem Profil unserer Gestalt – aber er hätte Unrecht. Indem wir die Streckung und Verzerrung unserer Schatten verzeichnen, erlangen wir einen Teil des im Kryptogramm verborgenen Wissens. Um die erforderlichen Beobachtungen anzustellen, brauchen wir lediglich eine feste, regelmäßige Oberfläche – eine Ebene -, auf die wir die Schatten werfen können. Diese Ebene hat uns Descartes gegeben.«
Und von da an begriff Daniel, dass das aufreibende Sonnenuhr-Projekt nicht bloß darauf abzielte, die Kurven zeichnen zu können, sondern zu begreifen, warum jede Kurve so und nicht anders geformt war. Anders gesagt, Isaac wollte imstande sein, an einem wolkenverhangenen Tag vor eine leere Wand zu treten, einen Gnomon hineinzustecken und sämtliche Kurven zu zeichnen, weil er schlicht wusste, wo der Schatten verlaufen würde. Es war das Gleiche, wie wenn man wusste, wo die Sonne am Himmel stehen würde, und das wiederum war das Gleiche, wie wenn man wusste, wo die Erde auf ihrer Umlaufbahn um die Sonne und in ihrer täglichen Umdrehung war.
Allerdings wollte Isaac, wie Daniel im Laufe der Monate begriff, imstande sein, das Gleiche auch dann zu tun, wenn sich die leere Wand beispielsweise auf dem Mond befände, den Christian
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