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Quicksilver

Quicksilver

Titel: Quicksilver Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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ab und überantworten sie einem nassen Grab. Alle sind in einen animalischen Zustand von Grauen und Not zurückgefallen. Riesige Wellen stoßen sie ohne erkennbares Muster umher, Fleisch fressende Fische verspeisen Menschen bei lebendigem Leibe. Errettung ist weder in Sicht noch vorstellbar.
    Es könnte auch einen 6. Akt geben, in dem alle tot sind, aber das gäbe keinen guten Opernstoff ab, weshalb Daniel ihn weglässt.
    Menschen seiner Generation sind im 5. Akt 2 geboren und im 4. Akt großgeworden. Als Studenten haben sie sich in einem kleinen, schutzlosen Hohlraum des 3. Akts zusammengedrängt. Tatsächlich hat sich die Menschheit in ihrer Geschichte größtenteils im 5. Akt aufgehalten und erst kürzlich das Kunststück fertig gebracht, zersplitterte, auf einer stürmischen See treibende Planken zu einem Segelschiff zusammenzusetzen, dann, nachdem sie an Bord gegangen ist, Instrumente zu bauen, mit denen sich die Welt messen lässt, und in diesen Messungen dann so etwas wie eine Regelmäßigkeit festzustellen. Als sie in Cambridge waren, umgab Newton ein persönlicher Nimbus von Akt II, und er war längst unterwegs zu Akt I.
    Doch paradoxerweise hatten sie unter Menschen gelebt, die ins falsche Ende des Fernrohrs spähten und sich einredeten, dass das Gegenteil zutraf – dass die Welt einst ein herrlicher, wohl geordneter Ort gewesen war – dass die Menschen, mit einem kurzen Zwischenstopp im Heiligen Land, um auf den Seiten der Bibel in verschlüsselter Form die Geheimnisse des Universums niederzulegen, einigermaßen reibungslos vom Garten Eden in das Athen von Platon und Aristoteles gelangt waren und dass seither alles langsam, aber unaufhaltsam vor die Hunde gegangen war. Geleitet wurde Cambridge von einer Mischung aus Greisen, die zu alt waren, um als gefährlich angesehen zu werden, und Puritanern, die von Cromwell dorthin gesteckt worden waren, nachdem er all diejenigen, die er als gefährlich ansah, eliminiert hatte. Mit wenigen Ausnahmen, wie etwa Isaac Barrow, hätte keiner von ihnen etwas mit Isaacs Sonnenuhr anfangen können, weil sie nicht wie eine alte Sonnenuhr aussah und sie die Zeit lieber auf klassische Weise falsch als auf neumodische Weise richtig angaben. Die Kurven, die Newton auf der Wand konstruierte, waren ein methodisches Dokument ihres Irrtums – ein Manifest, wie Luthers Thesen an der Kirchentür.
    Um zu erklären, warum diese Kurven so und nicht anders verliefen, würden sich die Fellows von Cambridge instinktiv der Euklidischen Geometrie bedienen: Die Erde ist eine Kugel. Ihre Umlaufbahn um die Sonne ist eine Ellipse – eine Ellipse erhält man dadurch, dass man im Raum einen riesigen imaginären Kegel konstruiert und diesen dann mit einer imaginären Ebene durchschneidet; die Schnittfläche von Kegel und Ebene ist die Ellipse. Ausgehend von diesen Grundfiguren (nämlich der winzigen Kugel, die um die Stelle rotiert, wo der gigantische Kegel von der imaginären Ebene geschnitten wird), würden diese Geometer weitere Kugeln, Kegel, Ebenen, Linien und andere Elemente hinzufügen – so viele, dass der Himmel, wenn man aufblicken und sie sehen könnte, fast schwarz davon wäre -, bis sie endlich eine Möglichkeit gefunden hätten, sich die Kurven zu erklären, die Newton an die Wand gezeichnet hatte. Dabei würde jeder Schritt durch Anwendung der einen oder anderen Regel verifiziert werden, deren Gültigkeit Euklid vor zweitausend Jahren in Alexandria bewiesen hatte, wo jeder ein Genie gewesen war.
    Isaac hatte Euklid nicht sehr lange studiert, und er hatte sich nicht genügend dafür interessiert, um ihn gründlich zu studieren. Wenn er mit einer Kurve arbeiten wollte, notierte er sie instinktiv nicht als Schnittfläche von Ebene und Kegel, sondern als eine Reihe von Zahlen und Buchstaben: als algebraischen Ausdruck. Das funktionierte nur, wenn es eine Sprache oder wenigstens ein Alphabet gab, das imstande war, Formen auszudrücken, ohne sie buchstäblich darzustellen, ein Problem, das Monsieur Descartes kürzlich gelöst hatte, indem er sich (erstens) Kurven, Linien et cetera als Ansammlungen einzelner Punkte vorgestellt und sich (zweitens) eine Methode ausgedacht hatte, einen Punkt durch Angabe seiner Koordinaten auszudrücken – zweier Zahlen oder Buchstaben, die für Zahlen standen , oder (am allerbesten) algebraischer Ausdrücke, die sich prinzipiell berechnen ließen und so Zahlen erzeugten. Damit wurde die gesamte Geometrie in eine neue Sprache mit eigenen Regeln

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