Quicksilver
Entfernungen vor meiner Cornea hochhältst – dabei werde ich die Stopfnadel auf und ab bewegen – und so bald größere, bald geringere Verformungen meines Augapfels hervorrufen – dies alles mit der einen Hand, während ich mit der anderen notiere, was ich sehe.«
So verging die Nacht – bei Sonnenaufgang wusste Isaac Newton mehr über das menschliche Auge als je ein Mensch vor ihm, und Daniel wusste mehr als je ein Mensch außer Isaac. Jeder hätte das Experiment durchführen können. Jedoch nur einer hatte es tatsächlich getan. Newton zog die Nadel aus seinem Auge, das blutrot und beinahe zugeschwollen war. Er wandte sich einem anderen Teil des Sudelbuches zu und begann, sich mit einem schwierigen Problem der kartesischen Analysis herumzuschlagen, während Daniel nach unten wankte und zur Kirche ging. Die Sonne verwandelte das Buntglasfenster der Kapelle in Matrices aus glühenden Edelsteinen.
Daniel sah auf eine Weise, auf die er noch nie etwas gesehen hatte: Sein Verstand war ein Homunkulus, der mitten in seinem Schädel hockte, durch gute, aber unvollkommene Fern- und Hörrohre hinausspähte und Beobachtungen sammelte, die unterwegs verzerrt worden waren, wie eine Linse sämtlichem Licht, das durch sie hindurchging, chromatische Abweichungen einfügte. Ein Mensch, der durch ein Fernrohr auf die Welt hinausspähte, würde annehmen, die Abweichung sei real, die Sterne sähen tatsächlich so aus – welche falschen Annahmen hatten die Naturphilosophen also bis gestern Nacht über das mit ihren Sinnen Wahrgenommene gemacht? Während er im bunten Strahlen jener Fenster saß und, den Verstand auf angenehme Weise von Erschöpfung berauscht, die Orgel spielen und den Chor singen hörte, nahm Daniel ein schwaches Echo davon wahr, wie es, und zwar die ganze Zeit, sein musste, Isaac Newton zu sein: eine fortdauernde Epiphanie, ein endloses Eingetauchtsein in grelles Strahlen, ein Ertrinken in Licht, ein Klingen kosmischer Harmonien in den Ohren.
An Bord der Minerva, Massachusetts Bay
OKTOBER 1713
Daniel bemerkt, dass jemand vor ihm steht, während er auf dem Deck liegt: ein gedrungener, rothaariger und rotbärtiger Mann mit einer brennenden Zigarre im Mund und einer Brille mit winzigen runden Gläsern: Es ist van Hoek, der Kapitän, der lediglich nachsieht, ob sein Passagier morgen auf See bestattet werden muss. Daniel setzt sich schließlich auf und stellt sich vor, und van Hoek sagt sehr wenig – wahrscheinlich tut er so, als könnte er weniger Englisch, als er in Wirklichkeit spricht, damit Daniel nicht ständig in seine Kajüte kommt und ihn belästigt. Er führt Daniel über das Hauptdeck der Minerva (das Oberdeck heißt, obwohl es an den Enden des Schiffes noch andere Decks gibt, die höher liegen) nach achtern und eine Treppe hinauf zum Quarterdeck, wo er ihn in eine Kajüte bringt. Selbst van Hoek, den man von hinten für einen stämmigen Zehnjährigen halten könnte, muss sich bücken, um sich an den leicht gebogenen Balken, die das darüber liegende Poopdeck tragen, nicht den Kopf zu stoßen. Er hebt den Arm über den Kopf, um sich an einem niedrigen Deckenträger abzustützen – den er nicht mit einer Hand, sondern mit einem Messinghaken berührt.
Obwohl klein und niedrig, ist die Kajüte völlig zufrieden stellend – eine Kommode, eine Lampe und ein Bett, bestehend aus einem Holzkasten, der einen mit Stroh ausgestopften Leinensack enthält. Das Stroh ist frisch, und sein Duft wird Daniel auf der Reise nach England immerzu an die grünen Felder von Massachusetts erinnern. Daniel legt nur wenige Kleidungsstücke ab, rollt sich auf dem Strohsack zusammen und schläft ein.
Als er aufwacht, leuchtet ihm die Sonne in die Augen. Die Kajüte hat ein kleines Fenster (ihr vorderes Schott liegt geschützt tief unter dem Poopdeck, sodass man dort gefahrlos Glasscheiben anbringen kann). Und da das Schiff Richtung Osten fährt, leuchtet die Sonne direkt hinein – dabei fallen ihre Strahlen zufällig auch durch das riesige Speichenrad, mit dem das Schiff gesteuert wird. Es befindet sich genau unterhalb der Kante ebendieses Poopdecks, sodass der Rudergänger dort Schutz vor dem Wetter finden kann und zugleich, fast über die gesamte Länge der Minerva, einen ungehinderten Blick nach vorn genießt. Im Augenblick hat man über einige der Handgriffe am Ende der Speichen Tauschlingen gelegt und festgezurrt, um das Ruder in einer bestimmten Position zu fixieren. Das Steuerrad ist unbemannt und unterteilt die rote
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