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Quicksilver

Quicksilver

Titel: Quicksilver Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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hatte Daniel dies so aufgefasst, wie es auch Drake aufgefasst haben würde: als Gleichnis mit einer Moral über fleischliche Freuden. Besser, die Welt so wahrzunehmen wie Tess in jenen zehneinhalb Stunden, als wie Daniel, während er mit ihr geschlafen hatte. Aber die Austern waren außerordentlich gut, ihr Geschmack intensiv und auf unbestimmte Weise gefährlich, und ihre Konsistenz hatte etwas eindeutig Sexuelles.
    Daniel gab dem Sergeant einige davon ab, der ihm darin beipflichtete, dass sie außerordentlich gut seien, ansonsten aber wenig zu sagen hatte – auf die meisten Fragen Daniels reagierte er nur mit unsteten Blicken, bei manchen zuckte er regelrecht zusammen. Schließlich erklärte er sich bereit, die Sache seinem Sergeanten zu unterbreiten, was bei Daniel eine schauerliche Vorstellung von einer endlosen Regression von Sergeanten weckte, jeder dienstälter und schwerer zu erreichen als der vorangegangene.
    Robert Hooke erschien mit einem Fässchen Ale. Daniel machte sich auf ganz ähnliche Weise darüber her, wie die Mörder sich über ihn hermachen würden. »Ich fürchtete schon, Ihr würdet meine Gabe verschmähen und sie in die Themse schütten«, sagte Hooke ungehalten, »aber wie ich sehe, haben Euch die Entbehrungen des Towers in einen veritablen Satyr verwandelt.«
    »Ich bin dabei, eine neue Theorie der körperlichen Wahrnehmungen und ihrer Wechselbeziehung mit der Seele zu entwickeln, und es handelt sich um Forschung «, sagte Daniel unter kräftigem Schlucken. Er pustete sich Aleschaum aus dem Schnurrbart (er hatte sich seit Wochen nicht rasiert) und versuchte, eine prüfende Miene aufzusetzen. »Zum Tode verurteilt zu sein ist ein machtvoller Stimulus zu philosophischer Reflexion, die freilich umsonst ist, sobald das Urteil vollstreckt wird – glücklicherweise hat man mich bisher verschont -«
    »Sodass Ihr mir Eure Erkenntnisse mitteilen könnt«, ergänzte Hooke verdrießlich. Dann, mit schwerfälligem Takt: »Mein Gedächtnis hat nachgelassen, bitte schreibt alles auf.«
    »Man verweigert mir Feder und Papier.«
    »Habt Ihr kürzlich noch einmal darum gebeten? Man hat mir und anderen bis heute auch jeden Besuch bei Euch verweigert. Aber mit dem neuen Regiment herrscht hier ein neues Reglement.«
    »Ich habe stattdessen an der Wand dort drüben herumgekratzt«, verkündete Daniel und deutete auf die Anfänge einer geometrischen Zeichnung.
    Hookes graue Augen betrachteten sie ausdruckslos. »Ich habe es schon beim Hereinkommen gesehen«, bekannte er, »und vermutet, es handele sich um etwas sehr Altes und vom Zahn der Zeit Angenagtes. Ganz neu und in Arbeit wäre mir nie in den Sinn gekommen.«
    Daniel war kurze Zeit fassungslos – gerade so lange, dass sein Puls sich beschleunigen, sein Gesicht sich röten und seine Kehle sich verengen konnte. »Es fällt schwer, dies nicht als Tadel aufzufassen«, sagte er. »Ich versuche lediglich festzustellen, ob ich aus dem Gedächtnis einen von Newtons Beweisen nachvollziehen kann.«
    Hooke wandte den Blick ab. Die Sonne war vor wenigen Minuten untergegangen. In seinen Augen spiegelte sich eine nach Westen gehende Schießscharte als identisches Paar senkrechter roter Schlitze. »Eine vollkommen zulässige Praxis«, räumte er ein. »Hätte ich in meiner Jugend mehr Zeit damit verbracht, Geometerkniffe zu lernen und sehen zu lernen, anstatt Dinge zu betrachten, hätte ich vielleicht an seiner Stelle die Principia geschrieben.«
    Das war eine erschreckende Äußerung. Neid war bei Zusammenkünften der Royal Society zwar so alltäglich wie Pfeifenrauch, doch dass er so ungeschminkt geäußert wurde, kam selten vor. Hooke allerdings hatte sich noch nie darum geschert oder auch nur bemerkt, was die Leute von ihm hielten.
    Daniel brauchte ein Weilchen, um sich zu fassen und Hookes Äußerung mit dem zeremoniellen Schweigen zu bedenken, das sie erheischte. Dann sagte er: »Leibniz hat zum Thema Wahrnehmungen, Perzeptionen, einiges zu sagen, das ich bis vor kurzem nicht recht verstanden habe. Und ihr mögt Leibniz schätzen oder nicht. Aber bedenkt Folgendes: Newton hat Dinge gedacht, die vor ihm kein Mensch gedacht hat. Ganz gewiss eine große Leistung, vielleicht die größte, die ein menschlicher Geist je vollbracht hat. Gut – was besagt das über Newton, und was besagt es über uns? Nun, dass sein Geist so beschaffen ist, dass sein Denken das jedes anderen übertrifft. Also Heil Isaac Newton! Wir wollen ihm Gerechtigkeit widerfahren lassen und die

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