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Quicksilver

Quicksilver

Titel: Quicksilver Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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falscher Trost?
    Seelen wurden auf irgendeine Weise erschaffen und in Körpern untergebracht, die mal kürzer, mal länger lebten, und alles, was danach kam, war Glaube und Spekulation. Vielleicht kam ja nach dem Tode tatsächlich nichts. Aber wenn etwas kam, dann hatte es Daniels Überzeugung nach nichts mit den irdischen Dingen zu schaffen, die der Körper getan hatte – den Kindern, die er gezeugt, dem Gold, das er gehortet hatte -, außer insofern, als diese Dinge die Seele, den Bewusstseinszustand veränderten.
    Auf diese Weise überzeugte er sich, dass seine Seele trotz des öden, dürftigen Lebens, das er geführt hatte, in keinem schlechteren Zustand war als die jedes anderen. So hätte es ihn zwar möglicherweise verändert, Kinder zu haben, aber nur, indem es ihm zu Einsichten verholfen hätte, die es einfacher oder wahrscheinlicher machten, eine innere Veränderung, einen geistigen Wandel herbeizuführen. Was immer in der Seele an Wachstum oder Wandel stattfand, musste ein innerer Vorgang sein, vergleichbar den Metamorphosen, die im Inneren von Kokons, Samenkörnern oder Eiern vor sich gingen. Äußere Bedingungen mochten solche Veränderungen fördern oder behindern, konnten aber nicht absolut notwendig sein. Alles andere wäre schlicht nicht fair, ergäbe keinen Sinn . Denn am Ende glich jede Seele, und ließe sie sich noch so sehr auf die Welt ein, Daniel Waterhouse, der allein in einem runden Raum in einem steinernen Turm saß und durch ein paar schmale Schießscharten Eindrücke von der Außenwelt empfing.
    Das jedenfalls redete er sich ein; entweder würde er bald ermordet werden und erfahren, ob er Recht oder Unrecht hatte, oder man würde ihn verschonen, sodass er weiter daran herumrätseln konnte.
    Am zwanzigsten Tag seiner Haft – nach seiner Berechnung der 17. August 1688 – deuteten die Eindrücke, die durch seine Schießscharten drangen, auf heftige Auseinandersetzung und durchgreifende Veränderung hin. Die Soldaten, die er flüchtig im Hof erblickt hatte, waren fort, ersetzt durch andere in anderen Uniformen. Sie sahen aus wie die King’s Own Black Torrent Guards, doch das konnte nicht sein, denn die Guards waren ein in Whitehall Palace stationiertes Leibregiment, und Daniel konnte sich nicht vorstellen, warum man sie aus ihrem Quartier dort herausreißen und mehrere Meilen flussabwärts in den Tower verlegen sollte.
    Unbekannte Männer kamen, um seinen Nachttopf zu leeren und ihm Essen zu bringen – besseres Essen als das gewohnte. Daniel stellte ihnen Fragen. Im Akzent von Dorsetshire antworteten sie, dass sie in der Tat zu den King’s Own Black Torrent Guards gehörten und dass das Essen, das sie ihm brachten, sich seit einiger Zeit in einem Wärterhaus angesammelt habe. Daniels Freunde hätten es gebracht. Doch die Leute, die bis gestern im Tower das Sagen gehabt hätten – ein ausgesprochen zweitklassiges Infanterieregiment -, hätten es nicht durchgelassen.
    Daraufhin ging Daniel zu Fragen von etwas anspruchsvollerer Natur über, und die Männer gaben keine Antworten mehr, auch nachdem er ein paar Austern mit ihnen geteilt hatte. Als er insistierte, erklärten sie sich immerhin bereit, seine Fragen an ihren Sergeant weiterzuleiten, der (so teilten sie ihm mit) im Augenblick sehr beschäftigt sei, da er eine Bestandsliste der Gefangenen und Verteidigungsmittel des Tower anfertige.
    Es vergingen zwei Tage, bis der Sergeant Daniel aufsuchte. Es waren anstrengende Tage. Denn gerade als Daniel zu der Überzeugung gelangt war, seine Seele sei ein körperloses Bewusstsein in einem Steinturm, das die Welt durch schmale Schlitze wahrnahm, hatte man ihm Austern gebracht. Sie waren vom Feinsten: Roger Comstock hatte sie geschickt. Sie verschafften seinem Körper Genuss, als er sie aß, und wirkten sich sehr viel stärker auf seine Seele aus, als es sich für ein körperloses Bewusstsein zu gehören schien. Entweder war seine Theorie falsch, oder die Verlockungen der Welt waren machtvoller, als er sie in Erinnerung gehabt hatte. Als Tess die Pocken bekommen hatte, war sie fürchterlich daran krepiert: Die Blattern hatten sich über ihren ganzen Körper ausgebreitet, ihre Haut hatte sich vollständig abgelöst, und ihre Eingeweide waren ihr als blutiger Haufen aus dem After auf das Bett gequollen. Danach war sie irgendwie noch volle zehneinhalb Stunden am Leben geblieben. Angesichts der fleischlichen Freuden, die sie ihm in den Jahren geschenkt hatte, in denen sie seine Geliebte gewesen war,

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