Quicksilver
Daniel nicht sehen konnte. Er hatte die Arme verschränkt und drückte ein altes Buch an sich, zwischen dessen Seiten er den Zeigefinger gesteckt hatte, um sich die richtige Stelle zu markieren. Die großen Augen wandten sich Daniel zu und betrachteten ihn ohne Überraschung.
»Guten Morgen, Dr. Waterhouse.«
»Guten Morgen, Mr. Locke. Und willkommen aus dem holländischen Exil.«
»Was gibt’s Neues?«
»Der König sitzt in Sheerness fest. Und wie steht es mit Euch, Mr. Locke, solltet Ihr nicht damit beschäftigt sein, uns eine neue Verfassung oder dergleichen zu schreiben?«
»Ich warte ab, was dem Prinzen von Oranien beliebt«, sagte John Locke geduldig. »Bis dahin wartet es sich in diesem Haus nicht schlechter als anderswo.«
»Jedenfalls besser als dort, wo ich gewohnt habe.«
»Wir stehen alle in Eurer Schuld, Dr. Waterhouse.«
Daniel machte kehrt, ging fünf Schritte den Flur entlang in Richtung der Vorderseite des Hauses und blieb vor der großen Tür am Ende stehen.
Er hörte Isaac Newton sagen: »Was wissen wir eigentlich von diesem Vizekönig? Angenommen, es gelingt ihm tatsächlich, es nach Spanien zu schaffen – wird er dessen wahren Wert begreifen?«
Daniel war versucht, eine Zeit lang dort stehen zu bleiben und zu lauschen, aber er wusste Lockes Blick in seinem Rücken, und so öffnete er die Tür.
Gegenüber waren drei hohe Fenster, die auf Charing Cross gingen, verhängt mit scharlachroten Vorhängen, die die Ausdehnung von Großsegeln hatten und von zahlreichen Wachslichtern in Kerzenständern und Kandelabern von seltsamer Form, wie von Ranken gewürgte, in massives Silber verwandelte Äste, erleuchtet wurden. Daniel hatte das Schwindel erregende Gefühl, in ein Meer von rotem Licht einzutauchen, aber seine Augen passten sich an, und er gewann langsam blinzelnd sein Gleichgewicht zurück.
Mitten im Zimmer stand ein Tisch mit einer Platte aus schwarzem, mit roten Adern durchzogenem Marmor. Zwei Männer saßen daran und blickten zu ihm auf: links von Daniel der Earl von Upnor und rechts Isaac Newton. In lässiger Pose in einer Ecke des Zimmers und vorgeblich in ein Buch vertieft, saß Nicolas Fatio de Duilliers.
Aus irgendeinem Grund sah Daniel das Ganze sofort mit dem misstrauischen Blick eines John Churchill. Hier saßen ein katholischer Adliger, der eher in Versailles als in London zu Hause war, ein Engländer mit puritanischer Erziehung und ebensolchen Gewohnheiten, der unlängst vom Glauben abgefallen war, der klügste Mann der Welt, und ein Schweizer Protestant, der berühmt dafür war, dass er Wilhelm von Oranien vor einem französischen Komplott gerettet hatte. Und sie waren soeben von einem nonkonformistischen Verräter gestört worden. Diese Unterschiede, die anderswo Duelle und Kriege auslösten, galten hier für nichts; irgendwie stand ihre Bruderschaft über solch kleinlichem Gezänk wie der protestantischen Reformation und dem kommenden Krieg gegen Frankreich. Kein Wunder, dass Churchill sie undurchschaubar fand.
Isaac hatte noch vierzehn Tage bis zu seinem sechsundvierzigsten Geburtstag. Seit sein Haar weiß geworden war, hatte sich sein Äußeres nur noch sehr wenig verändert; er unterbrach niemals seine Arbeit, um zu essen oder zu trinken, und war daher so schlank wie eh und je, und das einzige Anzeichen von Alter war eine zunehmende Transparenz seiner Haut, die ein Gewirr azurblauer Äderchen um seine Augen zum Vorschein gebracht hatte. Wie viele Collegebewohner fand er es sehr praktisch, seine Kleidung – die sich stets in prekärem Zustand befand, da sie nicht nur abgerissen und schäbig, sondern auch von diversen Destillaten verfleckt und verbrannt war – unter einem Talar verbergen zu können; doch sein Talar war scharlachrot, wodurch er im College deutlich und in London noch lebhafter hervorstach. Auf der Straße trug er ihn nicht, doch nun trug er ihn. Eine Perücke hatte er nicht aufgesetzt, sodass ihm das weiße Haar lose über die Schultern fiel. Irgendwer hatte dieses Haar gebürstet. Wahrscheinlich nicht er selbst. Daniel tippte auf Fatio.
Den Earl von Upnor hatten die zurückliegenden Jahrzehnte stark gefordert. Er war ein-, zweimal verbannt worden, weil er Männer im Duell getötet hatte, was er so beiläufig tat, wie ein Schauermann in der Nase bohrte. Er hatte das große Londoner Familienanwesen verspielt und war während der opernhaftesten Exzesse der so genannten papistischen Verschwörung für ein paar Jahre auf den Kontinent fortgejagt worden.
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