Quicksilver
mich geradewegs in Eleonores Schlafzimmer.
Eleonore und Frau Heppner saßen gerade beim Kaffee. Prinzessin Caroline las laut aus einem Buch vor.Wie Ihr Euch vorstellen könnt, waren sie alle verblüfft; aber Frau Heppner, die Hebamme, warf nur einen Blick auf mich, murmelte etwas auf Deutsch und stand auf.
Eleonores Gesicht erschien über mir. »Frau Heppner sagt: ›Endlich wird der Tag interessant!‹«
Menschen, die besonders böse sind und wissen, dass sie es sind, so wie Pater Édouard de Gex, kommen vielleicht zur Religion, weil sie die verzweifelte Hoffnung hegen, ihr wohne die Macht inne, sie tugendhaft zu machen – ihre Dämonen zu benennen und auszutreiben.Wenn sie aber so schlau sind wie er, finden sie Möglichkeiten, ihren eigenen Glauben zu pervertieren und in den Dienst genau der bösen Absichten zu stellen, die sie zu Anfang hatten. Ich bin zu dem Schluss gekommen, Doktor, dass der wahre Nutzen der Religion nicht darin besteht, Menschen tugendhaft zu machen, was unmöglich ist, sondern den schlimmsten Exzessen ihrer Bösartigkeit eine Art Zügel anzulegen.
Eleonore kenne ich nicht gut. Nicht gut genug, um zu wissen, welche Laster vielleicht in ihrer Seele schlummern. Sie verachtet die Religion nicht (wie Jack es tat, der von ihr hätte profitieren können). Noch klammert sie sich krankhaft daran, wie Pater Édouard de Gex. Das lässt mich hoffen, dass in ihrem Fall die Religion das tun wird, was sie tun soll, nämlich sie zurückhalten, wenn sie in den Bann irgendeiner bösen Eingebung gerät. Ich habe keine andere Wahl als das zu glauben, denn ich habe sie mein Baby nehmen lassen. Das Kind wechselte unmittelbar aus den Händen der Hebamme in Eleonores Arme, und sie drückte es an ihren Busen, als wüsste sie genau, was sie tat. Ich habe nicht versucht, mich dagegen zu wehren. Ich war so erschöpft, dass ich mich kaum bewegen konnte, und danach schlief ich, als wäre es mir einerlei, ob ich jemals wieder wach würde oder nicht.
In der Klartextfassung meiner Geschichte über Wehen und Entbindung, Doktor, erzähle ich die Version, die im Binnenhof alle glauben, nämlich dass wegen der schändlichen Feigheit von Marie und dieser Hebamme mein Baby starb und dass ich auch gestorben wäre, wenn die tapfere Brigitte mich nicht in das Zimmer gebracht hätte, wo die gute deutsche Kinderfrau, Frau Heppner, dafür sorgte, dass die Nachgeburt aus meinem Bauch entfernt wurde, damit die Blutung aufhörte, und mir so das Leben rettete.
Das ist alles Unsinn. Aber ein Abschnitt davon stimmt, und das ist der, wo ich über das sinnliche Vergnügen spreche, das einen Körper überkommt, wenn die Last, die er neun Monate getragen hat, endlich losgelassen wurde – nur um ein paar Augenblicke später durch eine neue Last ersetzt zu werden, diesmal eine geistiger Natur. In der Klartextgeschichte ist das die Last des Kummers über den Tod meines Kindes. Aber in der wahren Geschichte – die immer komplizierter ist – ist es die Last der Unsicherheit und Trauer über Tragödien, die vielleicht nie passieren. Ich wohne jetzt wieder allein in Huygens’ Haus, und das Baby bleibt in der Obhut von Frau Heppner und Eleonore im Binnenhof. Wir haben bereits angefangen, das Gerücht in Umlauf zu setzen, es sei ein Waisenkind, das eine Frau, die vor einem Massaker in der Pfalz floh, auf einem Kanalschiff auf dem Rhein zurWelt gebracht habe.
Es ist sehr wahrscheinlich, dass ich überleben werde. Dann werde ich dieses Baby holen und versuchen, mich nach London durchzuschlagen und dort für uns beide eine Existenz aufzubauen. Sollte ich jedoch krank werden und sterben, wird Eleonore es nehmen. Aber früher oder später, ob morgen oder in zwanzig Jahren, werden das Kind und ich auf irgendeineWeise getrennt werden, und es wird irgendwo draußen in der Welt sein und ein Leben führen, von dem ich nur sehr wenig weiß. So Gott will, wird es mich überleben.
In ein paarWochen oder Monaten werden sich hier in Den HaagWege trennen. Das Baby und ich werden nach Westen gehen. Eleonore und Caroline werden nach Osten reisen, die Gastfreundschaft der Frauen, in deren Dienst Ihr steht, genießen und an ihren Plänen teilhaben.
Wenn ich, so Gott will, London erreiche, werde ich Euch einen Brief schreiben. Falls Ihr keinen solchen Brief bekommt, bedeutet das, dass ich, während ich mich noch erholte, Opfer einer größer angelegten Intrige von d’Avaux wurde.Vielleicht will er das Baby tot wissen, vielleicht aber auch nicht. Ganz sicher will er,
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