Quicksilver
Daniel das Thema Schimpfwörter in wenigen Stunden erschöpfend behandelt hatte, ging er zu Tugenden (geistigen, moralischen und homiletischen), Farben, Geräuschen, Geschmäcken und Gerüchen, Berufen, Handwerken (z.B. Zimmerhandwerk, Nähen, Alchimie) et cetera über. Wilkins wurde unleidlich, wenn Daniel oder sonst jemand zu schwer arbeitete, deshalb fanden in der Küche häufig »Seminare« und »Symposien« statt – man verwendete Honig aus Christopher Wrens gotischem Bienenhaus, um Flip zu machen. Oft kam Charles Comstock, der fünfzehnjährige Sohn ihres edlen Gastgebers, zu Besuch, um Wilkins oder Hooke reden zu hören. Er brachte in aller Regel Briefe an die Royal Society von Huygens, Leeuwenhoek, Swammerdam und Spinoza mit. Häufig stellte sich heraus, dass sie neue Begriffe enthielten, die Daniel in die Tafeln der Philosophischen Sprache einfügen musste.
Eines Tages, Daniel war schwer damit beschäftigt, eine Liste all der Dinge zusammenzustellen, die ein Mensch auf der Welt besitzen konnte (Aquädukte, Achsen, Paläste, Scharniere), bat Wilkins ihn dringlich nach unten. Unten angekommen, fand er den Reverend vor, der einen imposant aussehenden Brief in der Hand hielt, und Charles Comstock, der klar Schiff machte: große Schaubilder der Arche und Fütterungspläne für die achtzehnhundertfünfundzwanzig Schafe zusammenrollte und aus dem Weg räumte, um Platz für Wichtigeres zu schaffen. Charles II., von Gottes Gnaden König von England, hatte ihnen folgenden Brief geschrieben: Seine Majestät hatte bemerkt, dass Ameiseneier größer waren als Ameisen, und begehrte zu wissen, wie das möglich war.
Daniel lief hinaus und plünderte ein Ameisennest. Den Kern eines Ameisenhaufens auf dem Blatt einer Schaufel, kehrte er im Triumph zurück. Im vorderen Zimmer hatte Wilkins einen Antwortbrief an den König zu diktieren und Charles Comstock ihn zu schreiben begonnen – noch nicht den inhaltlichen Teil (da sie noch keine Antwort wussten), sondern die ausführlichen Absätze mit Apologien und überschwänglicher Schmeichelei, die ihm vorausgehen mussten: »Mit Eurem funkelnden Geist erleuchtet Ihr die Orte, welche lange Zeit in, äh, Düsternis, äh geschmachtet -«
»Das klingt eher nach einer für den Sonnenkönig bestimmten Anspielung, Reverend«, warnte ihn Charles.
»Dann streicht es! Heller Bursche. Lest mir den ganzen Schwulst noch einmal vor.«
Daniel verhielt vor der Tür zu Hookes Laboratorium und nahm seinen Mut zusammen, um zu klopfen. Doch Hooke hatte ihn näher kommen hören und öffnete ihm. Mit ausgestreckter Hand bat er Daniel herein und wies ihn zu einem mit Flecken übersäten Tisch, der freigeräumt worden war. Daniel trat ein, kippte das Ameisennest darauf, stellte die Schaufel ab und brachte erst dann die Courage auf einzuatmen. In Hookes Laboratorium roch es nicht so übel, wie er immer vermutet hatte.
Hooke fuhr sich mit der Hand nach hinten durchs Haar, zog es sich aus dem Gesicht und band es im Nacken mit einem Stück Schnur zusammen. Dass Hooke nur zehn Jahre älter war als er, erstaunte Daniel unablässig. Hooke war erst vor wenigen Wochen dreißig geworden, im Juni, ungefähr zu der Zeit, als Daniel und Isaac aus dem pestverseuchten Cambridge in ihren jeweiligen Heimatort geflüchtet waren.
Nun starrte Hooke auf den lebendigen Schmutzhaufen auf seinem Tisch. Seine Augen waren stets auf ein schmales Ziel fokussiert, als spähe er durch ein hohles Schilfrohr auf die Welt hinaus. Wenn er sich draußen in der großen Welt oder auch nur im Vorderzimmer aufhielt, mutete das seltsam an, aber es war sinnvoll, wenn er die kleine Welt auf einer Tischplatte betrachtete – hierhin und dorthin wuselnde Ameisen, die Eierbeutel aus dem Trümmerhaufen trugen und einen Verteidigungsring bildeten. Daniel stand ihm gegenüber und betrachtete zwar , sah aber offensichtlich nicht dasselbe.
Nach wenigen Minuten hatte Daniel fast alles gesehen, was er bei den Ameisen sehen würde, nach fünf Minuten langweilte er sich, nach zehn Minuten hatte er jede Verstellung aufgegeben und begonnen, in Hookes Laboratorium umherzuschlendern und die Überreste all dessen zu betrachten, was je unter dem Mikroskop gelegen hatte: poröse Steinsplitter, modrige Schuhlederstücke, ein kleines Glasgefäß mit der Aufschrift WILKINS’ URIN, Bruchstücke von versteinertem Holz, zahllose winzige Papiertüten mit Samen, Gläser mit Insekten, Fetzen verschiedener Stoffe, winzige Töpfe mit der Aufschrift SCHNECKEN-ZÄHNE
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