Quicksilver
mit denen wir sie betrachten, gesagt hatte. Vier Stunden später ritt er auf einem geliehenen Pferd nach Norden.
An Bord der Minerva, Plymouth Bay, Massachusetts
NOVEMBER 1713
Beim Aufwachen ist Daniel besorgt. Die Steifheit in seinen Masseter- Muskeln, die Schmerzen in Frontalis und Temporalis verraten ihm, dass er sich im Schlaf über irgendetwas Sorgen gemacht hat.Trotzdem, besorgt zu sein ist immer noch besser als fürchterliche Angst zu haben, ein Zustand, in dem er sich bis gestern befand, als Kapitän van Hoek endlich den Gedanken aufgab, die Minerva in den Rachen eines Sturms hineinzusegeln, und in ruhigere Gewässer entlang der Küste von Massachusetts zurückkehrte.
Kapitän van Hoek hätte wahrscheinlich von »leichtem Wellenschlag« gesprochen oder sonst einen nautischen Euphemismus gebraucht, aber Daniel hatte einen Eimer zum Auffangen seines Erbrochenen und eine leere Flasche zur Aufnahme der Notizen, die er in den letzten paar Tagen gekritzelt hatte, in seine Kajüte mitgenommen. Wenn das Wetter noch schlechter geworden wäre, hätte er sie in die Pütz geworfen. Vielleicht hätte ein Mohr oder Hottentotte sie in ein-, zweihundert Jahren gefunden und alles über Dr. Waterhouse’ frühe Erinnerungen an Newton und Leibniz gelesen.
Die Planken des Poopdecks verlaufen nur wenige Zoll über Daniels Gesicht, wenn er auf seinem Strohsack liegt. Er hat gelernt, den Tritt von van Hoeks Stiefeln auf diesen Planken zu erkennen. Auf einem Schiff gilt es als ungehörig, sich dem Kapitän auf weniger als einen Faden zu nähern, deshalb sind van Hoeks Schritte, selbst wenn es auf dem Poopdeck voll ist, stets von viel leerem Raum umgeben. Während sich die Suche der Minerva nach stetigem Westwind auf eine, dann auf zwei Wochen ausdehnte, hat Daniel gelernt, anhand von Gestalt und Rhythmus der Bewegungen des Kapitäns auf dessen Gemütszustand zu schließen – jedes Muster gleicht den Schritten eines höfischen Tanzes. Ein stetiger langer Schritt bedeutet, dass alles in Ordnung ist und der Kapitän lediglich sein Reich abschreitet. Wenn er das Wetter beobachtet, bewegt er sich in kleinen Wirbeln, und wenn er mit seinem Höhenmesser den Sonnenstand misst, steht er still und stemmt die Fußballen gegen die Planken, um das Gleichgewicht zu halten. Doch heute Morgen (Daniel vermutet, dass es früh am Morgen ist, obwohl die Sonne sich noch nicht blicken lässt), tut van Hoek etwas, was Daniel noch nie beobachtet hat: Er flitzt mit kurzen, zornigen Schritten auf dem Poopdeck hin und her, wobei er jeweils für wenige Sekunden an dieser oder jener Reling stehen bleibt. Die Seeleute, das spürt er, sind größtenteils wach, halten sich aber allesamt unter Deck auf, wo sie sich gegenseitig mit »Pst!« zum Schweigen bringen und kleinen, konzentrierten, stillen Arbeiten nachgehen.
Gestern sind sie in die Cape Cod Bay – die flache Bucht in der Armbeuge von Cape Cod – eingefahren, um das hintere Ende jenes Nordoststurms abzuwettern, bestimmte Reparaturen vorzunehmen und das Schiff noch gründlicher winterfest zu machen, als es das bisher war. Doch dann drehte der Wind auf Nord und drohte, sie auf die Sandbänke am Südrand besagter Bucht zu treiben, deshalb segelten sie Richtung Sonnenuntergang, manövrierten das Schiff mit äußerster Vorsicht zwischen Felsen auf der Steuerbord- und versunkenen Inseln auf der Backbordseite hindurch und gelangten so in die Plymouth Bay. Bei Einbruch der Nacht warfen sie, vor dem Wetter gut geschützt, in einem Meeresarm Anker und (vermutete Daniel) schickten sich an, ein paar Tage dort zu verweilen und günstigeres Wetter abzuwarten. Doch van Hoek war offensichtlich nervös – er verdoppelte die Wachen und ließ das erstaunlich reichhaltige Arsenal des Schiffes an Handfeuerwaffen reinigen und ölen.
Ein ferner Knall lässt die Scheiben von Daniels Kajütenfenster erzittern. Er rollt sich wie ein Vierzehnjähriger aus dem Bett und eilt zum Ausgang, wobei er im Dunkeln mit einer Hand über dem Kopf hin und her fährt, um sich an dem Deckenbalken nicht den Schädel einzuschlagen. Als er aufs Quarterdeck hinaustritt, meint er zu hören, wie das Feuer von sämtlichen Inseln und Hängen um sie herum erwidert wird – dann geht ihm auf, dass es sich lediglich um Echos der ersten Explosion handelt. Mit einer guten Taschenuhr könnte er die Umgebung anhand von Messungen dieser Echos kartographisch erfassen -
Dappa, der Erste Maat, sitzt in der Nähe des Ruders im Schneidersitz auf dem Deck
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