Quicksilver
Erdgeschoss und darüber eine Schlafkammer, beides nach der damals gültigen Maxime »wenig, aber riesig« möbliert. In der Südhälfte – mit ganz wenigen, winzigen Öffnungen, um das reichlich vorhandene Sonnenlicht hereinzulassen – hatte sich Isaac eingerichtet: im Erdgeschoss eine Küche mit einem gewaltigen, begehbaren Kamin, geeignet für alchimistische Arbeiten, und darüber eine Schlafkammer.
Isaac überredete Daniel, sich zu einem kurzen Schläfchen in oder wenigstens auf das Bett seiner Mutter zu legen – und machte dann den Fehler zu erwähnen, dass er vor vierundzwanzig Jahren, mehrere Wochen vor der Zeit, in ebendiesem Bett zur Welt gekommen war. Und so stand Daniel, nachdem er eine halbe Stunde lang starr wie ein Tetanusopfer in diesem Bett gelegen und zwischen seinen Füßen hindurch das Erste betrachtet hatte, worauf jemals Isaacs Blick gefallen war (das Fenster und den Obstgarten), wieder auf und ging nach draußen. Isaac saß, ein Buch auf dem Schoß, noch immer auf der Bank, aber seine Goldbrille war auf den Horizont gerichtet. »Haben sie gründlich aufs Haupt geschlagen, würde ich sagen.«
»Wie bitte?«
»Anfangs spielte sie sich nahe am Ufer ab – aber sie hat sich stetig weiter weg verlagert.«
»Wovon sprichst du eigentlich, Isaac?«
»Von der Seeschlacht – wir kämpfen im Ärmelkanal und in der Irischen See gegen die Holländer. Hörst du denn nicht den Kanonendonner?«
»Ich habe still im Bett gelegen und nichts gehört.«
»Hier draußen ist es ganz deutlich wahrzunehmen.« Isaac hob die Hand und fing ein herabschwebendes Blütenblatt auf. »Der Wind begünstigt unsere Navy. Die Holländer haben den falschen Zeitpunkt zum Angreifen gewählt.«
In diesem Moment überfiel Daniel ein kurzes Schwindelgefühl. Zum Teil rührte es von dem Gedanken her, dass James, der Herzog von York, der ihm noch vor ein paar Wochen auf Armeslänge gegenübergestanden und von Syphilis gesprochen hatte, in diesem Moment an Deck eines Flaggschiffes stand, die holländische Flotte unter Feuer nehmen ließ und von ihr unter Feuer genommen wurde; und das Dröhnen rollte übers Meer und wurde aufgenommen von der großen Ohrmuschel des Wash, der Boston und der Lynn Deep, des Long Sand und der Brancaster Roads, die vielleicht als Windungen eines Gehörgangs dienten, wurde den Kanal des Welland hinauf weitergeleitet, entlang seinen Nebenflüssen und -bächen aufgefächert in die Senken und Hügel von Lincolnshire und drang schließlich an Isaacs Ohr. Teils rührte es daher und teils von dem Anblick, der sich seinen Augen darbot:Tausende weißer Blütenblätter rieselten von den Apfelbäumen herab und folgten der gleichen diagonalen Bahn zum Boden, ihre Fallkurve abgeschrägt von einer Brise, die meerwärts wehte.
»Weißt du noch, als Cromwell starb und Satans Wind kam, um seine Seele in die Hölle zu befördern?«, fragte Isaac.
»Ja. Ich bin in seinem Leichenzug mitmarschiert und habe zugesehen, wie es alte Puritaner niederbeugte.«
»Ich war auf dem Schulhof. Wir hatten damals gerade einen Weitsprungwettbewerb. Ich habe den Preis gewonnen, obwohl ich klein und schwach war. Vielleicht habe ich ihn auch gerade deshalb gewonnen – ich wusste, ich würde meinen Verstand gebrauchen müssen. Ich stellte mich so, dass Satans Wind genau von hinten kam, und achtete dann darauf, dass ich während einer besonders kräftigen Bö absprang. Der Wind trug meinen kleinen Körper wie eines dieser Blütenblätter durch die Luft. Einen Moment lang packte mich ein Gefühl – halb freudige Erregung, halb Grauen -, als ich mir vorstellte, der Wind würde mich davontragen – meine Füße würden vielleicht nie wieder den Boden berühren – ich würde, knapp über dem Boden, immer weiter dahinsausen, bis ich den Erdball umrundet hatte. Ich war eben ein kleiner Junge. Ich wusste nicht, dass Projektile in Parabeln aufsteigen und fallen. Und seien diese Kurven noch so flach, sie neigen sich stets wieder der Erde zu. Aber gesetzt, eine Kanonenkugel oder ein von einem übernatürlichen Wind gepackter kleiner Junge flöge so schnell, dass die Zentrifugalkraft (wie Huygens sie genannt hat) seiner Bewegung um die Erde genau seiner Neigung zu fallen entgegenwirkte?«
»Äh – es kommt darauf an, was für Annahmen du über das Wesen des Fallens machst«, sagte Daniel. »Warum fallen wir? Und in welche Richtung?«
»Wir fallen auf den Mittelpunkt der Erde zu. Denselben Mittelpunkt, um den sich auch die Zentrifugalkraft dreht
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