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Quintessenzen

Quintessenzen

Titel: Quintessenzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sven Böttcher
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dreißig Meter hohen Pfahl stehen, ihrem langen, fast nackten Stamm. Je dichter die Jungs beisammenstehen, desto nackter werden sie unten rum sein, und vermutlich stehen ein paar Leichen dazwischen, die niemand abgesägt hat, Verlierer, jene, die nicht mithalten konnten.
    Das Leben in großer Nähe zu Artverwandten hat Vorteile: Man ist dem Wind und der Kälte nicht so sehr ausgesetzt, man kann sich beinahe aneinander lehnen. Der Nachteil ist, dass man mit den anderen um Licht, Wasser, Sonne konkurriert. Wer sich ein herrlich buschiges Kleid zulegt, das bis zum Boden reicht, verliert. Die anderen wachsen dir über den Kopf, du kriegst keine Sonne ab – und bleibst tot auf der Strecke.
    Der Wettlauf um die lebensnotwenigen Dinge erzeugt diese seltsamen Formen (nicht nur bei den Kiefern): Am Ende stehen sie unsicher, auf zu langen nutzlosen Pfählen, wiegen sich in jedem Windstoß, um nicht abzubrechen, und hängen mit ihrem kleinen bisschen Christbaum am Leben, dem Licht dort oben. Besonders schön ist das nicht, aber mir nötigen diese Jungs dennoch Respekt ab. Sie mussten Kompromisse machen, viele Kompromisse, um zu überleben. Hörst du sie schimpfen über uns? Sie hatten keine Wahl.
    Du bestimmst genauso wenig wie ein Baum, wohin du geboren wirst. Hast aber im Gegensatz zum Baum Wurzeln, auf denen du laufen kannst. Und damit die Möglichkeit, den Ort, an dem du zu voller Größe heranwächst, selbst zu bestimmen. Du kannst wählen, was du sein willst: Eiche oder Kiefer, ganz allein, fast allein oder im Rudel. Du kannst dich selbst verpflanzen. So weit deine Wurzeln das mittragen. Wie flexibel die sind, kriegst du auf dem Weg von selber raus.
    Denn an welchem Ort du überleben und am besten gedeihen kannst, sagt dir leider niemand. Die Antwort findest du nur in deinem Herzen. Aber lass dir nie von den anderen Kiefern (oder der Eiche) einreden, du hättest nicht die Möglichkeit, den Kiefernwald oder das freie Feld aus freien Stücken zu verlassen. Dir sind, was deinen Aufenthaltsort im psychischen wie im physischen Leben betrifft, keine Grenzen gesetzt.
    NaturA (die da draußen)
    »Mutter« klingt sanft, liebevoll und freundlich, deshalb fällt »Mutter Natur« unter irreführende Werbung, geboren aus der bezaubernden Phantasie derer, die noch nie draußen übernachtet haben. Es hilft uns aber alltäglich und lebenslänglich, zu wissen, dass Mutter Natur ihrem Wesen nach doch eher einer Herbergsmutter mit Tourettesyndrom ähnelt.
    Wie? Nein, das ist doch kein Vorwurf! Wir werfen doch auch nicht der alles Leben spendenden Sonne vor, dass sie uns verbrennt. Dafür kann doch die Sonne nichts. Wir werfen doch auch nicht dem Meer vor, dass es Menschen ertränkt, die, wenn das Meer 30 Meter zurückweicht, Muscheln sammeln gehen, statt vor der sich ankündigenden Flutwelle zu flüchten. An unserem Tod durch Ertrinken oder Hautkrebs trägt die Natur keine Schuld. Die tragen wir allein, wenn wir uns nicht ausreichend vor ihr schützen. Lies daher richtig, nämlich im alten Wörterbuch: Naturschutz ist Schutz vor der Natur. Denn Natur schert sich nicht mal einen Dreck um unsere Ansichten.
    Kurz: Mach dir um die Natur keine allzu großen Sorgen, denn wenn wir ihr endgültig zu nahe treten (indem wir zum Beispiel das ganze Öl aus ihrem Bauch abfackeln und in die Atmosphäre jagen), bringt sie uns einfach um. Ohne Rücksicht und ohne mit der Wimper zu zucken, die sie ja eh nicht hat. Die Natur ist ein großartiges Wunder. Aber halte sie nicht für nett. Falls du dich bei diesem Gedanken erwischst, schlaf draußen.
    Natur B (die da drin)
    Wenn einer davon spricht, etwas sei »gegen seine Natur«, also gegen sein »Wesen«, klingt das nach einem falschen und mühsamen Weg. Manchmal müssen wir zwar etwas »gegen die Natur« da draußen tun, zum Beispiel uns Dächer über die Köpfe bauen, aber: »gegen unsere eigene Natur« – das wäre blödsinnig, denn etwas zu tun, was unserem Wesen nicht entspricht, das wäre doch reine Zeit- und Energieverschwendung, also falsch.
    Wir können uns daher wohl darauf einigen, dass wir nichts tun sollten, was gegen unsere Natur ist – allerdings nur, sofern wir uns über das Wesen unserer eigenen Natur tatsächlich im Klaren sind. Und genau hier wird unser Gefühl uns manchmal schmählich im Stich lassen. Die »innere Stimme«, auf die zu hören uns die Mystiker dann gern raten, ist nämlich oft eben nicht unsere eigene , auch wenn sie so klingt, und wir brauchen Stille und gute, sehr offene

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