Quintessenzen

runtergeschleudert? Ein geistiger Mittelständler wird sofort kernige Antworten haben, etwa diese: »Viren. Weil unsere eine Sonne auf die andere Seite der Erde scheint. Weil du immer um die Zeit nach Hause kommst. Andeutungen im Telefonat vorher. Gravitation.«
    Sollte dir das noch nicht reichen, um Abstand zu nehmen, lade dein Gegenüber ein, sich zu besinnen, zum Beispiel so: »Müssten dann nicht alle krank werden, die Viren essen? Müssten nicht die unendlich vielen leuchtenden Sonnen, sprich: Sterne, auch den Nachthimmel hell wirken lassen? Aber woher weiß mein Hund das auch dann, wenn ich heute zwei Stunden früher komme als sonst? Und woher weiß Mutter nach vier Wochen Alles-ist-gut-Stillschweigen in dem Augenblick Bescheid, da ihrer Tochter etwas Schreckliches passiert? Sind da Dinge verbunden, die nicht verbunden sein können? Und hat die Naturwissenschaft denn überhaupt eine wirklich gute Idee, was Gravitation ist und woher sie kommt?«
    Spätestens hier entlarvt sich der geistige Mittelständler, denn hier steht er in seiner ganzen Ahnungslosigkeit förmlich nackt vor dir und wird sich erstens was schämen und zweitens das Weite suchen, indem er das Thema wechselt oder dich und deine Fragen als esoterisch diffamiert. Suche in diesem Fall keinen Streit, sondern ergreife höflich ein Weinglas sowie das neue Thema, das dein Gegenüber vorgeschlagen hat (und sieh dich nach einem Fluchtweg um). Wenn du Glück hast, redet der Mittelständler von nun an über das Terrain, auf dem er sicher stehen kann (Pendlerpauschale, Fußball, Sonderangebote oder das Wetter). Wenn du Pech hast, äußert er eine politische Meinung. In diesem Fall entferne dich unter einem glaubwürdigen Vorwand, denn das hält man ja wirklich nicht aus.
    Du wirst dem geistigen Mittelstand auf deinem Lebensweg nicht vollständig entkommen können, solltest aber versuchen, ihn möglichst gründlich zu meiden. Und das geht. Ich habe nämlich gelogen, oben. Es sind nicht 92 Prozent. Es gibt – trotz aller Bemühungen von Privatfernsehen, Boulevardpresse und Werbewirtschaft – noch immer verblüffend viele ehrliche einfache Menschen. Es gibt sogar eine Reihe von klugen und bescheidenen Weisen. Du wirst sie finden. (Solltest du jedenfalls, denn »allzu häufiger Umgang mit dem geistigen Mittelstand« dürfte die eine oder andere Erkrankung eines geistig und seelisch gesunden Menschen weit besser erklären als jeder Virus.)



Aufmerksamkeitsrelation
    Merkwürdigerweise habe ich mehr als 40 Jahre gebraucht, um das zu begreifen, was ich dir im Folgenden schildere. Sieh mir also nach, dass es ein paar Zeilen mehrverlangt- und sei sicher, dass du sie nicht vergebens liest.
    Wahr ist, dass → Liebe eine Macht ist. Dass geliebt zu werden Kraft schenkt. Wirst du geliebt, fließt fraglos Energie ( → Energiro) zu dir, auf Wegen, die der Naturwissenschaft unklar sind. Wie so vieles ( → Kosmos A bis Atom ).
    Weniger bekannt als »Liebe verleiht Flügel« ist, dass nicht nur Zuneigung, sondern jede Form von Aufmerksamkeit Energie fließen lässt, und zwar vom Aufmerksamen zu dem, dem die Aufmerksamkeit zuteil wird. Dabei muss die Aufmerksamkeit allerdings nicht zwingend liebevoll sein. Kleine Kinder verschaffen sich Aufmerksamkeit, indem sie schreien. Erwachsenen ist dieser Weg versperrt (zum Glück), dennoch sind die meisten wie kleine Kinder auf Aufmerksamkeit angewiesen, ansonsten fehlt ihnen jede Lebensenergie.
    Wie aber verschafft man sich diese Aufmerksamkeit als Erwachsener?
    Tricky.
    Die wenigsten sprechen das Bedürfnis einfach aus. Manche tun’s, kriegen aber trotzdem keine Aufmerksamkeit, sondern gelten danach bloß als Memmen, Egozentriker oder beides. Deshalb entwickeln die meisten (spätestens nach dieser Erfahrung, meist vorher) Strategien, die ihnen die lebensnotwendige Aufmerksamkeit, also Energie, möglichst zuverlässig sichern.
    Lass mich einige Beispiele nennen: Der Eine ist bildschön – Aufmerksamkeit ist ihm gewiss, er ist beschenkt vom Schicksal. Der Nächste singt auf einer Bühne – Aufmerksamkeit ist ihm gewiss, Energie fließt zu ihm. Der Dritte ist weder schön noch stark noch kann er singen. Dafür ist er ständig krank, man bemitleidet ihn, Aufmerksamkeit ist ihm gewiss, Energie ebenfalls. Der Vierte ist unselbständig – und gewinnt deine Energie, indem du dich um seine Angelegenheiten kümmerst, ob du ihm einen Nagel in die Wand schlägst oder ihm die Wäsche wäschst. Der Nächste ist ständig fies und nervt.