Quipu
›Ort des Eises‹ bedeutet. Es kann jede Art von Gletscher sein.«
»
Pactaguañui.
«
»Vorsicht, der Tod!«
»
Guanipata.
«
»›Terrasse der Prüfung‹. Eine Warnung vor Gefahr.«
»
Inca Ruminahui.
«
»
Nahui
bedeutet ›Auge‹ und
Rumi
›Stein‹. Hier haben Sie Ihr ›Auge des Inkas‹;wahrscheinlich handelt es sich um eine Art Berghöhle.«
»Und was sollen diese ganzen Namen?«, fragte Sebastián verwundert. »Und warum sind so viele Menschen hinter ihnen her?«
»Das weiß ich nicht. Es sind ganz allgemein gefasste Begriffe«, antwortete Umina nachdenklich. »Vielleicht sind es
huacas
.«
»
Huacas?
«
»Das bedeutet ›heilige Stätten‹.«
»Also sind das alles Namen von Tempeln?«
»Nicht unbedingt. Es sind eher so etwas wie Marksteine: Bergkuppen, Quellen, Höhlen oder Felsen mit charakteristischen Formen. Alles, was den Indios irgendwie heilig war. Sie glaubten, ihre Vorfahren wären diesen Stätten entsprungen, weshalb sie dort die Mumien ihrer Ahnen verehrten. Für viele Familien war es das, was sie mit einer Gegend verband und sie berechtigte, diese zu bewohnen. Ihr Eigentumstitel sozusagen.«
»Und warum wollte Sírax sie niedergeschrieben haben?«
»Sie wurden geheim gehalten, weil dort Opfer dargebracht und wertvolle Gegenstände niedergelegt wurden. Die Indios mussten sie vor den Spaniern schützen, damit diese sie nicht plünderten. Oder damit die Missionare sie nicht zerstörten … Geben Sie mir die Liste.«
|279| Umina nahm die drei Blätter in die Hand und fuhr mit dem Finger daran entlang.
»Was machen Sie da?«, fragte Sebastián.
Die junge Frau gebot ihm mit einer Handbewegung zu schweigen.
»Ich habe die Wörter gezählt«, antwortete sie, als sie fertig war.
»Wozu?«
»Ich erkläre es Ihnen gleich.« Umina stand auf. »Geben Sie mir jetzt bitte das Quipu, mit dem die Chronik gebunden war.«
Sie trat an den Tisch des Salons und breitete die rote Knotenschnur aus, sorgsam darauf bedacht, den Hauptstrang, von dem die dünnen Schnüre abgingen, gerade hinzulegen. Dann zählte sie diese.
»Einundvierzig, es sind genau einundvierzig Schnüre! Die gleiche Anzahl wie die Namen in Großbuchstaben«, erklärte sie, als sie fertig war. »Jetzt zählen Sie bitte die Knoten an jeder dieser Schnüre, während ich die kleingeschriebenen Wörter auf der Liste noch einmal durchgehe.«
»Es sind dreihundertachtundzwanzig Knoten, nicht wahr?«, fragte sie Sebastián nach einer geraumen Weile, und als er nickte, lächelte sie zufrieden. »Damit ist klar, dass eine enge Beziehung zwischen dieser von Diego de Acuña niedergeschriebenen Liste der
huacas
und dem roten Quipu besteht.«
»Was für eine Art von Beziehung?«
»Das wird nur ein
quipucamayo
feststellen können, der die Sprache dieser Schnüre und Knoten beherrscht.«
Sebastián blickte sie erstaunt an. »Gibt es heute noch
quipucamayos
?«
»Vielleicht in Cuzco. Meine Mutter wird das sicher wissen.«
»Genaues können wir also erst dort herausfinden. Aber was denken Sie darüber?«
»Hm … möglicherweise wurde dieses Quipu ja im sechzehnten Jahrhundert als eine Art Landkarte des Inkareiches oder zumindest der Region um Cuzco und Vilcabamba verwendet. In diesem Fall würden sich die Namen auf Orte beziehen, die den Indios |280| damals gut bekannt waren. Heute wird es bedeutend schwieriger sein, sie ausfindig zu machen. Einige Orte dürften nicht mehr bewohnt sein, weshalb sich niemand daran erinnern wird, andere haben vielleicht inzwischen neue, spanische Namen.«
»Das heißt, mein Vater hat keineswegs irregeredet«, schloss der Ingenieur.
»Was meinen Sie damit?«
»Als Sie ihn in Madrid besuchten, haben Sie doch auch seinen Sekretär gesehen, nicht wahr?«
»Ja, und mir fielen die vielen Fächer auf.«
»Er hat ihn dafür verwendet, die Bezugspunkte der Chronik zu ordnen, sie entsprechend ihrer Beziehung zur Tektonik, dem Textilen und den Texten in die jeweiligen Fächer einzusortieren.«
»Nein, Ihr Vater hat keineswegs irregeredet, er wusste genauestens Bescheid«, sagte Umina anerkennend und stand auf. »Und wenn Sie das noch besser verstehen wollen, dann kommen sie am besten mit aufs Dach.«
Sie stiegen hinauf auf die Dachterrasse, und dort erklärte die Mestizin ihm am Beispiel des im Bau befindlichen Nachbarhauses, dass wegen der häufigen Erdbeben in Lima solider Stein nur für die Fundamente der Gebäude verwendet wurde. Entlang dieses Grundrisses hatten die Indios Pfosten in den
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