Quipu
zyklopischen Mauern befestigt. Die riesigen Steinblöcke durchzogen das Gelände im Zickzack wie die Zähne einer Säge. Es gab welche, die höher als |380| drei Mann übereinander oder breiter als drei nebeneinander waren. Im Abendlicht muteten sie gar wie die offene Kinnlade eines Fabelwesens an, vielleicht waren es die Zähne des Pumas, der den Umriss von Cuzco nachzeichnete.
»Wie haben sie sie nur aus den Steinbrüchen hierhergeschafft?«, fragte Sebastián verwundert. »Soweit ich weiß, kannten sie das Rad noch nicht.«
»Ja. Und auch keine Rinder oder anderen Zugtiere, ebenso wenig wie Eisen oder Stahl.«
»Und wie konnten sie die Steine dann mit solcher Genauigkeit ineinanderfügen, ohne Flaschenzüge oder sonstige Hilfsmittel, nur mit ihrer eigenen Muskelkraft? So etwas habe ich in Europa noch nirgendwo gesehen.«
Umina trat zu einem der Steinblöcke und strich verträumt über seine Oberfläche.
»Eines dieser Einschlaglöcher stammt bestimmt von mir«, sagte sie. »Früher bin ich oft mit meinem Vater und seinen Soldaten hierhergekommen, um das Schießen zu üben.«
Jenseits der Zickzackmauern erhob sich ein weiterer gewaltiger Felsen, der von den Indios auf eine äußerst bizarre Weise behauen war.
»Das ist der
saycusa,
der ›Müde Stein‹«, erläuterte die Mestizin. »Er wurde so genannt, weil sein Transport ihn sehr ermüdete und er nicht mehr weiterwollte, sodass er Blut weinte.«
»Er weinte Blut?«
»Es stammt aus einer Gegend, die über dreizehn Meilen entfernt ist. Um ihn hierher zu schleppen, wurden zwanzigtausend Indios eingesetzt: Die eine Hälfte zog mit dicken Seilen, während die andere den Fels hinten abstützte, damit er nicht den Abhang hinabrollte. Trotzdem ist er abgestürzt und hat drei- bis viertausend Menschen unter sich begraben.«
Als die Sonne unterzugehen begann, kehrten Sebastián und Umina zu Qaytu und Chimpu zurück, die sich neben der bereits gefüllten Zisterne niedergelassen hatten, um im Sternenbild die |381| Entsprechungen zu den Schnüren und Knoten des roten Quipus zu suchen. Je dunkler es wurde, umso deutlicher erstrahlte das Firmament über den Anden. Der Alte zeigte, das Quipu in seinen Händen, auf die Spiegelung einer klaren, leuchtenden Diagonale.
»Das ist die Milchstraße. Auf Quechua heißt sie
mayu,
der ›Fluss‹. Die Inkas dachten, ihr entspringe der Regen, und der Blitz öffne ihre Schleusen.«
Chimpu war glücklich. Die Sternwarte verband Himmel und Erde, damit das Reich der vier Himmelsrichtungen seine Bestimmung erführe und sich in die Ganzheit des Kosmos einfügte.
»Von hier gehen wie die Speichen eines großen Rades die einundvierzig
ceques
aus, an denen die dreihundertachtundzwanzig
huacas
aufgefädelt sind. Es heißt, man habe sie der Sternenkonstellation am Himmel entsprechend gewählt.«
»Und warum ist diese Anlage von solch zyklopischen Mauern umgeben?«, wollte Sebastián wissen.
»Meinen Sie, die wären sonst noch hier? Wenn die Steine nicht so gewaltig wären, hätten die Spanier sie längst für den Bau von Kirchen oder Palästen verwendet. Die Inkakönige nannten sich ›Söhne der Sonne‹. Die ganze Stabilität ihres Reiches
Tahuantinsuyu
hing von ihrem Wissen und der Beobachtung des Firmaments ab. Die Steine dienten dazu, diesen Ort für alle Zeiten zu schützen.«
Und dann erzählte Chimpu, wie der Inka sich jedes Jahr im Juni während der Sonnwende mit dem Oberpriester, Vertretern der vier Himmelsrichtungen und einem
quipucamayo
an die Stelle gesetzt hatte, wo sie sich gerade befanden. In dieser Nacht wahrte man in ganz Cuzco vollkommenes Schweigen, um die eingehende Himmelsbetrachtung nicht zu stören. Nach einer genauen Untersuchung des in der Zisterne gespiegelten Firmaments zeichnete der Priester das Aufgehen der wichtigsten Sterne nach. Besondere Aufmerksamkeit widmete er dabei dem kosmischen Fluss der Milchstraße.
Eine Reihe vergoldeter, an der Zisternenmauer angebrachter Marken diente dazu, die Bewegungen der Sterne im Laufe eines |382| Jahres nachzuvollziehen. Waren diese Berechnungen angestellt, so verkündete der Oberpriester seine Voraussagen, die der
quipucamayo
dann in einem Quipu festhielt. Anschließend verglich dieser sie mit früheren Quipus, und es wurden die Zeiten für Aussaat und Ernte gemäß den Vorhersagen für das zu erwartende Wetter und Klima bestimmt, welche die Vertreter der vier Himmelsrichtungen in ihrer Heimat kundtun sollten. Von der Genauigkeit der Knotenschnüre hing also
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