Quipu
Wind eingefangen und gebändigt …
Die junge Frau riss ihn aus seinen Gedanken, als sie erklärte, sie hätten damit alles gesehen und könnten ihr nun ins Büro folgen, wo sie ihnen die Geschäftsbücher vorlegen wolle. An dem Blick, den Paco und Lucía austauschten, erkannte Sebastián, dass nun der Augenblick der Wahrheit gekommen war.
In den nächsten Stunden legte ihm die Vorarbeiterin dar, wie seine Mutter es geschafft hatte, das Vermögen ihrer Familie zusammenzuhalten. Mithilfe von Paco hatte sie sich zunächst Warenmuster des in der Bucht von Cádiz hergestellten Segeltuchs sowie sämtliche dafür benötigten Webkämme liefern lassen und sich dann auf die Herstellung von Stoffen, Seilen und Schiffstauen spezialisiert.
»Alles ist im Umbruch, und unser Überleben hängt davon ab, ob wir uns anpassen können. Ich will gar nicht drum herumreden: Wir müssen es schaffen, den Auftrag für den neuen Schiffstyp der Armada zu bekommen! Gelingt uns das nicht, sind wir erledigt. Nächste Woche müssen wir der Werft von La Carraca einen ersten Posten Taue liefern. Wenn Sie Geld sehen wollen, müssen Sie mit Paco hinreiten.«
»Was genau ist das für ein Auftrag?«, fragte Sebastián interessiert.
|104| Eifrig erläuterte die junge Frau ihm alles. Lucías Fachkenntnisse waren beeindruckend. Sie wusste ganz genau, wie viel Tauwerk ein Schiff an Bord führte, wie viel Hanf und wie viele Gesellen und Lehrlinge man brauchte, um es herzustellen – und vor allem, wie viele Waisen sie mit dem Geld durchfüttern könnte.
»Und was bräuchte man, um diese Pläne umzusetzen?«, wollte er wissen.
»Mehr Webstühle. Und die alten müssten mit breiteren Kämmen ausgestattet werden. Wir sparen schon, wo wir können. Wenn wir das Geld dafür nicht zusammenbekommen, verlieren wir den Wettbewerb, die Leute ihre Arbeit, und alle werden wieder Hunger leiden. Es ist
die
Gelegenheit. Ohne diesen Auftrag werden wir der Konkurrenz durch den Marqués de Montilla nicht mehr länger standhalten können.«
Als Sebastián an diesem Abend in seine Kammer zurückkehrte, blickte er lange hinunter auf den Laubengang im Innenhof und dachte über den Tag nach. Er befand sich in einem Dilemma: Zwar hätte er mit dem Geld von der Werft ein Auskommen in der Verbannung, doch würde er der Manufaktur seiner Mutter so jegliches Kapital entziehen und die Menschen in schwere Not stürzen. Zudem hatte Paco ihm unter vier Augen etwas verraten, was Lucía ihm wohlweislich verschwiegen hatte: dass diese Summe genau die war, die sie für ihr Vorhaben noch benötigten. Und Sebastián war auch die kleine Kammer mit Pacos Habseligkeiten nicht entgangen, die der Vorarbeiter von der Werft schon in die Manufaktur gebracht hatte. Ohne Zweifel hoffte der Seiler darauf,den Auftrag,der jahrelange Beschäftigung versprach,zu bekommen und der jungen Frau dann endlich einen Heiratsantrag machen zu können.
|105| Cádiz
E ine Woche später trennten sich Sebastián de Fonseca und Paco in El Puerto de Santa María, wo der Vorarbeiter mit dem Tauwerk für die Werft auf Sebastián warten wollte. Dieser machte sich zunächst mit der Fähre auf den Weg nach Cádiz, um dort mithilfe von Boncalcios Empfehlungsschreiben seine Schiffspassage zu den Kanarischen Inseln zu bekommen.
Es ging bereits auf den Abend zu. An Deck vergnügte sich lautstark eine Gruppe junger Señoritos. Sebastián trat an die Reling. Durch das warme, immer schwächer werdende Sonnenlicht wirkte die Stadt wie verzaubert: Es brach sich in den dekorativen Keramikzinnen an den Dachbrüstungen der Häuser, warf deren Widerschein zurück auf die gekalkten Mauern und von dort aufs Wasser,wo es über die sanft kräuselnden Wellen tänzelte. Die Stadt war so schön,wie er sie in Erinnerung hatte,der Hafen schien noch prachtvoller und größer geworden zu sein.
»Lasst uns jener Menschen gedenken, die hier ihr Leben lassen mussten«, riss ihn die feierliche Stimme des Steuermanns auf einmal aus seinen Gedanken.
Sie hatten die Untiefen erreicht. Da die Sandbänke häufig ihre Lage änderten, forderten sie jedes Jahr etliche Opfer. Augenblicklich wurde es still, nur hier und da vernahm man geflüsterte Gebete, während ein Schiffsjunge mit einer Kappe Kupfermünzen einsammelte, mit denen Messen für die armen Seelen im Fegefeuer bezahlt werden sollten.
Danach ging das Lachen und Scherzen weiter, jetzt noch ausgelassener als zuvor, bis sie die Mole erreichten.
|106| Als Erstes sprach Sebastián in der
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