Quipu
Wort und gab seinem Pferd die Sporen.
Zwei Stunden später ritten sie auf einem steinigen Weg den Felsen hinauf, auf dem sich die halb verfallene Burg der Fonsecas erhob. Auf ihr Rufen erhielten sie zunächst keine Antwort, sodass Paco mehrmals gegen das Tor hämmern und seinen Namen brüllen musste, bis sich auf der anderen Seite schlurfende Schritte näherten und der Burgwächter ihnen zögernd öffnete.
Nachdem ihm Paco erklärt hatte, dass sein Herr etwas in der Kapelle suche, wurde der alte Mann ganz bleich.
»In der Kapelle? Da ist … also …«, druckste er herum, bis er Paco die Stirn runzeln sah und darauf mit der Sprache herausrückte: »Vor zwei Tagen hat ein Fremder Einlass begehrt, Señor. Er hatte ein Schreiben Ihres Vaters dabei, deshalb habe ich ihn reingelassen.«
Sebastián wollte schon aufbrausen, aber Paco legte ihm besänftigend die Hand auf den Arm.
|99| »Und wie sah dieser Mann aus?«, fragte er den Alten mit ruhiger Stimme.
Doch der Burgwächter konnte den Fremden nicht genau beschreiben, er habe sein Gesicht mit einem Tuch gegen den Staub geschützt. Allerdings sei seiner Frau aufgefallen, dass er ein grünes Cape getragen habe.
Da erschauderte Sebastián: Der Mörder seines Vaters hatte so einen Umhang getragen, als er durchs Fenster ihres Herrenhauses entkommen war.
»Er ist mir zuvorgekommen«, murmelte er niedergeschlagen. »Ich bin gespannt, was mich gleich erwartet.«
Als Sebastián die kleine Kapelle betrat, erblickte er sogleich die in die Wand versenkten Grabplatten. Das gesuchte Grab war jedoch nicht dabei, so genau er auch jedes einzelne in Augenschein nahm. Schon wollte er das Gotteshaus enttäuscht verlassen, da entdeckte er es dann doch: Die Grabplatte mit dem Knoten aus dem Wappen war in den Boden der Vierung eingelassen, direkt vor dem Altar, an dem seine Eltern vermählt worden waren. Und es bestand kein Zweifel: Der Fremde hatte es auch entdeckt. Das Bleisiegel war aufgebrochen worden.
Paco half Sebastián, die Platte abzuheben. Gespannt beugten die beiden die Köpfe darüber. Doch das Grab war leer: Weder sahen sie einen Sarg noch irgendein Skelett. Die Enttäuschung stand Sebastián ins Gesicht geschrieben. Der Seiler ließ sich auf die Knie nieder.
»Dahinten scheint noch was zu sein … Geben Sie mir mal die Petroleumlampe … Das ist eine der Schmuggelkisten aus der Bucht!«
»Ich will sehen, was drin ist.« Sebastián kletterte ins Grab hinab. Seine Überraschung war groß, als er die Truhe öffnete. »Bücher! Nichts als Bücher!«
Er nahm das oberste heraus. Es war ein Band von Diderots ›Encyclopédie Française‹, in das jemand ein Lesezeichen gelegt hatte. Sein Vater? Sebastián schlug das Buch auf: »Selbst wenn in |100| irgendeinem fernen Winkel dieser Erde oder gar im Zentrum der zivilisierten Welt eine Revolution ausbrechen, alle Städte dem Erdboden gleichgemacht werden und wir alle wieder in Unwissenheit versinken sollten, so ist doch nichts verloren, solange irgendwo ein einziges Exemplar dieses Werkes der Nachwelt bewahrt wurde.«
Tief beeindruckt von diesem monumentalen Werk, in dem der Gesamtbestand des Wissens wie auch die Ideen der Aufklärung dargelegt waren, hatte Juan de Fonseca die komplette Enzyklopädie in seiner Burg vergraben, um bei der Eheschließung mit Sebastiáns Mutter auf diesen Büchern stehen zu können, in Gedanken vielleicht bereits bei seiner Nachkommenschaft. Sebastián war gerührt über so viel naiven Glauben an den Fortschritt und die menschliche Vernunft. Seine Eltern waren beide noch sehr jung gewesen, als sie ihren Lebensbund besiegelten, gegen den Willen ihrer Familien: väterlicherseits, weil die Fonsecas zum alten Adel zählten und keine Emporkömmlinge, und seien diese noch so reich, in ihrer Mitte duldeten, und mütterlicherseits, weil Juan durch die politisch restaurative Haltung seiner Familie keine wirklich gute Partie abgab.
Doch Sebastiáns Rührung währte nicht lange, denn als er sich die übrigen Bände genauer ansehen wollte, vernahm er plötzlich ein scharfes Zischen, und ehe er sich’s versah, verspürte er einen stechenden Schmerz in der Hand.
Paco reagierte augenblicklich und sprang zu seinem Herrn hinab.
»Eine Kreuzotter«, sagte er, nachdem er mit seinem Messer der Schlange blitzschnell den Kopf abgeschlagen hatte. »Irgendjemand muss sie hier reingesetzt haben. Und sie ist trächtig, da sind sie am giftigsten.«
|101| Lucía
D ie Manufaktur war ein Labsal für
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