Quipu
Leib und Seele. So empfand es zumindest Sebastián am nächsten Tag, als er sich von dem Schlangenbiss erholt hatte und einen Spaziergang durch die Flussauen machte. Auf einmal verstand er die Liebe seiner Mutter zu den Ländereien ihrer Familie mit all den Obstgärten, Feldern, Alleen und dem kleinen Fluss, der die Bewässerungsgräben und die Mühle mit den beiden Schöpfrädern speiste.
Er hatte sich mit Paco im Hof verabredet. Lucía wollte ihnen die Manufaktur zeigen, doch fanden sie sie nicht im Haupthaus, sondern im Waisenhaus nebenan, einem wunderschönen Gebäude, das Sebastiáns Mutter zur Heimstatt elternloser Kinder gemacht hatte. Das Herz ging Sebastián auf, als sie durch das Tor in den sonnigen, mit Fresken verzierten Kreuzgang traten, von dem aus eine prunkvolle Freitreppe hinauf zu der Galerie führte, deren Deckentäfelung der Treppe an Pracht in nichts nachstand, sodass er sich unweigerlich fragte, wie es angehen konnte, dass ihr Herrenhaus in Madrid so heruntergekommen war, während hier noch alles in vollem Glanz erstrahlte und die einstige Größe und Bedeutsamkeit seiner Familie widerspiegelte.
Lucía erklärte gerade ein paar kleinen Mädchen die Handhabung eines Webstuhls. Die Vorarbeiterin war keine Frau, die man hätte als schön bezeichnen können, sie war nicht einmal hübsch, doch strahlte sie eine Wärme aus, die ihrem tiefsten Inneren zu entspringen schien, und sie bewegte sich mit natürlicher Anmut, obgleich sie ein wenig hinkte. In ihr vereinten sich ein Hang zur Melancholie – erkennbar an ihrem zaghaften Lächeln |102| und der Tiefe ihres Blicks – und die Tatkraft äußerlich zart wirkender Menschen, die mit großer Willensstärke jeglichen Widrigkeiten des Schicksals trotzen. Sebastián war nicht der Einzige, den sie beeindruckte. Ihm entging die Wandlung Pacos in Lucías Gegenwart nicht. Der sonst leicht mürrisch dreinblickende Mann wirkte gegenüber der jungen Frau auf einmal schüchtern und zartfühlend.
Als Erstes besichtigten sie die Tuchwerkstatt. An der Stirnseite der großen Halle stand eine schöne geschnitzte Figurengruppe, die Josef von Arimathäa und seine Helfer darstellte, die gerade mit ein paar Seilen Jesu Leichnam vom Kreuz nahmen.
»Das ist eine der Skulpturengruppen der Karwoche«, fühlte Lucía sich bemüßigt zu erklären, »die der Seiler. Unsere Arbeiter tragen sie während der Prozession. Ihre Mutter wollte so unsere Erzeugnisse bekannt machen und mildtätige Menschen um Spenden für das Waisenhaus bitten. Kommen Sie.«
Die junge Vorsteherin klatschte im Gang zwischen den Webstühlen in die Hände, damit die daran Arbeitenden den Militäringenieur begrüßten. Sein Besuch war für sie eine große Ehre.
»Es werden hier ganz verschiedene Stoffe hergestellt«, erläuterte Lucía. »Dort drüben Flanell. Und dahinten Frottee und Sackleinen.«
Es erfreute Sebastiáns Herz, die langen Reihen junger Menschen zu betrachten, die eifrig Wolle kämmten, Garn spannen und webten, doch wunderte er sich etwas über den hohen Anteil der Mädchen. Voller Stolz führte Lucia ihn daraufhin zu einer Tafel, wo sie in großer Schrift den neuesten königlichen Erlass hatte niederschreiben lassen, der besagte, dass man Frauen das Erlernen dieser Arbeiten nicht verwehren dürfe.
»Neben dem Weben lernen die Mädchen hier auch, wie man einen Haushalt und eine gute Ehe führt. Und wenn sie heiraten, bekommen sie von uns eine Aussteuer mit, und dann zerreißen wir ihnen ihre Schürze.«
»Wieso wird ihnen die Schürze zerrissen?«
»Zum Zeichen, dass sie sich damit von diesem Haus unabhängig machen. Viele arbeiten allerdings lieber hier weiter.«
|103| Anschließend zeigte Lucía ihnen noch, wo die Stoffe gewalkt wurden, und von dort führte sie sie hinaus auf die Felder.
»Neben den Auen von Granada wird hier der beste Hanf ganz Andalusiens angebaut, einige behaupten sogar, ganz Europas«, fuhr Lucía fort. »Ihre Mutter musste viel Überzeugungsarbeit leisten, damit die Werften von Cádiz von uns gedrehte Seile und Segeltuch orderten. Mit dem fertig verarbeiteten Hanf konnten wir unsere Einkünfte vervielfachen.«
Während Paco ihren Erklärungen mit unverhohlenem Stolz lauschte, versetzten sie Sebastián in immer größeres Erstaunen. All die Überquerungen des Atlantiks, all die Fahrten zu den Kolonien mit den großen Segelschiffen hingen von der Arbeit der Menschen ab, die in der Manufaktur seiner verstorbenen Mutter arbeiteten, mit diesen Stoffen wurde der
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